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Ein milder englischer Blick auf Wilhelm II.

Von Chris Melzer 15.12.2008, 09:05

Kassel/dpa. - Das Image des Mannes ist denkbar schlecht: Eitel und aufbrausend soll er gewesen sein, oberflächlich («Wilhelm der Plötzliche»), arrogant und dazu noch antisemitisch und rassistisch.

Wilhelm II., der letzte Kaiser der Deutschen, soll gar Wegbereiter Hitlers gewesen sein und dessen Schreckensherrschaft erst ermöglicht haben. Von mehreren, jetzt erschienenen Biografien hebt sich die des Engländers Christopher Clark ab, der ein milderes Licht auf den unpreußischsten aller preußischen Herrscher wirft.

Der Cambridge-Professor stellt gleich zu Anfang klar, worum es ihm in seinem Buch geht. Es solle «keineswegs den letzten deutschen Kaiser rehabilitieren. Aber es möchte Verunglimpfung und Verständnis wieder in die richtige Balance bringen.» Erst vor kurzem erschien der dritte und letzte Band von John Röhls monumentaler Wilhelm-Biografie. Beide Bücher könnten unterschiedlicher kaum sein. Während Röhl auf den 4000 Seiten kein Detail auslässt und als schärfster Kritiker Wilhelms gilt, sieht Clark in seinem nicht einmal ein Zehntel so starken Werk Verantwortung eher bei Kanzler und Militär. Der Kaiser sei bestenfalls eine Marionette gewesen.

Clark stört völlig zu recht, dass das Bild Wilhelms II. selbst in Deutschland von Klischees bestimmt wird. Der hochmütige Blick, die hochgezwirbelten Bartenden, die auf Hochglanz gebrachten Uniformen - das ist typisch für Wilhelm gewesen, aber es war eben doch nur ein Teil der Figur, die eine ganze Epoche prägte. Eine Korrektur tut not. Deshalb ist unverständlich, dass Clark kaum auf das Privatleben des Kaisers eingeht. Seine Frau, Auguste Viktoria, kommt einmal zu Wort, seine sechs Söhne gar nicht. Auch auf Abbildungen verzichtet das Buch völlig. Obwohl es zahlreiche ungewöhnliche - und vor allem untypische - Aufnahmen des letzten Kaisers gibt, muss sich die breite Öffentlichkeit weiter mit den ebenso bekannten wie Arroganz ausstrahlenden offiziellen Porträts begnügen.

Immerhin geht Clark auf die Erziehung Wilhelms ein, die «bemerkenswert unmilitärisch» gewesen sei. Als erster Hohenzoller sei er auf ein normales Gymnasium (in Kassel) gegangen, doch das in der Gesellschaft zu der Zeit so wichtige Militär lernte er nur als Prinz, nicht als Rekrut kennen. Es blieb bei allem Uniformzwang zeitlebens der Unwille, Selbstdisziplin zu üben. Wilhelm sei eben nicht das «Geschöpf der Kasernenhöfe» gewesen und immer «ein militärischer Dilettant» geblieben: «Wilhelm hat zwar das äußere Brimborium übernommen, nicht aber die Wertvorstellungen und die Geisteshaltung eines preußischen Offiziers.»

Der Untertitel des Buches lautet «Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers». In der Tat illustriert Clark vor allem Wilhelms Regierungsstil. Im Gegensatz zum Großvater und Namensvorgänger wollte sich der Enkel nicht von einem Kanzler dirigieren lassen, sondern sein «persönliches Regiment» führen. Aber gerade das sei völlig gescheitert. Der Kaiser sei von seinen Kanzlern und Generälen gelenkt worden, ohne es zu merken. Versuche, selbst Politik zu machen, seien kläglich gescheitert.

Doch auch da nimmt Clark Wilhelm in Schutz. Etwa in der Affäre um die «Krüger-Depesche», in der Wilhelm die südafrikanischen Buren zum Widerstand gegen England ermunterte. Erstaunlicherweise, schreibt der Engländer, würden Historiker stets den britischen Blickwinkel einnehmen und Wilhelms Schreiben als anmaßend bezeichnen. Doch letztlich habe nur ein Staatsmann die Position seines Landes klargemacht. Auch hier gelte: Wilhelm als arroganten Trottel zu sehen, beantworte so schön einfach zahlreiche Fragen - wenn auch nicht unbedingt richtig.

Clark bietet interessante Einblicke. Etwa, dass sich das rein männliche Umfeld Wilhelms mit weiblichen Kosenamen bedachte (der Imperator war «das Liebchen»). Oder das der Kaiser seine «Hofjuden» verehrte, dennoch im Alter immer antisemitischer wurde. Und trotzdem sagte Wilhelm nach den Novemberpogromen 1938: «Zum ersten Mal schäme ich mich, Deutscher zu sein.» All diese Widersprüche machen den letzten Kaiser zu einer faszinierenden Figur. Clarks Biografie bringt den Leser an das Rätsel Wilhelm II. dichter heran. Viele Fragen lässt sie aber unbeantwortet.

Christopher Clark

Wilhelm II.

Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers

Deutsche Verlags-Anstalt, München

348 Seiten, Euro 24,95

ISBN 978-3-421-04358-0