Edgar Hilsenrath Edgar Hilsenrath: Aus der Kindheit vertrieben
Halle/MZ. - Die Galerie am halleschen Domplatz war am Montagabend heillos ausverkauft. Rund 150 Menschen sitzen dicht an dicht, die hinauf zu zwei Männern blicken.
Volker Dittrich, Verleger in Berlin, und dessen wichtigster Hausautor: Edgar Hilsenrath, 81. Ein kleiner, schwarz gekleideter Herr mit grauweißem Schnurrbart und flatterigem Backenhaar unter dunkelblauer Baskenmütze. Still vergnügt blinzelt Hilsenrath vor sich hin. Schraffiert von Zigarettenqualmfäden, die von seinem Aschenbecher aus senkrecht nach oben quirlen.
Palästina und zurück
Ein Heimspiel? In Maßen. Die Stadt kennt Hilsenrath mehr als ihm lieb sein kann. Edgar Hilsenrath, 1926 geboren in Leipzig, Sohn des deutsch-jüdischen Möbelhändlers David und seiner Ehefrau Anni, lebte von 1928 an in Halle, Bernburger Straße 30. Bis er 1938 gemeinsam mit seiner Mutter und dem Bruder Manfred vom Vater in den Zug gesetzt wurde. Vor dem antisemitischen NS-Terror in Halle hatte sich die Familie in den rumänischen Teil der Bukowina zu retten. Hilsenrath überlebte nach zahlreichen Stationen, die ihn über die Ukraine und Palästina, Frankreich und Amerika 1975 zurück nach Deutschland führten - in den Westen Berlins, wo er heute lebt.
Elf Bände zählt die Werkausgabe, die der Dittrich Verlag von Hilsenrath herausgegeben hat. Der letzte Band soll im März erscheinen: "Sie trommelten mit den Fäusten den Takt - Erzählungen und andere Texte". Elf Bände, das heißt Titel wie "Der Nazi & der Friseur", "Die Abenteuer des Ruben Jablonski" oder "Das Märchen vom letzten Gedanken". Jedes Buch ein neuer Stil, jedes Werk eine neue Welt, nahezu immer ein kleiner Skandal, mindestens eine öffentliche Erregung.
Hilsenraths in Amerika verfasste Groteske "Der Nazi & der Friseur" zum Beispiel, in der der SS-Oberscharführer Max Schulz die Identität seines Opfers Itzig Finkelstein annimmt, um als Friseur in Israel über die Runden zu kommen, trug dem Autor von den deutschen Kollegen den Vorwurf des Antisemitismus ein. Erst als Heinrich Böll das Buch lobte, ging es hierzulande seinen Weg. Mit ihm der Ruhm des Autors, der nie ein Ruhm der vorderen Wahrnehmungsreihe war, trotz Döblin-, Sahl- und Feuchtwanger-Preis. Edgar Hilsenrath ist kein Promi, sondern der letzte bedeutende deutsch-jüdische Erzähler, der Letzte einer großen Tradition.
Dass er am Montagabend tatsächlich das erste Mal in Halle gelesen hat, ist nicht leicht zu begreifen. Wie viele lebendige Autoren gibt es eigentlich, die Weltliteratur vorgelegt haben - und deren Werke ins Mitteldeutsche führen? Das Programm des "Zuges der Erinnerung", der ab heute im Hauptbahnhof Halle an die Opfer des Holocaust erinnert, machte das hallesche Hilsenrath-Debüt möglich.
Kaum dass er mit seiner leisen, keckernd-kicherigen Stimme liest, ist es im Raum: das Gauklerische und Clowneske, der jähe Sturz ins Makabre und das Staunen darüber, das sich in einem schulterhüpfenden Lachen entlädt. Hilsenraths Humor ist ein kindlich eigensinniger, der lustig Retourkutschen fährt. In Kürzestdialogen führt der Autor in seine hallesche Kindheit. ",Papas Geschäft wird arisiert.' ,Was ist das?' ,Das weiß ich nicht.' ,Und was bedeutet ruiniert?' ,Das weiß ich auch nicht genau. Ich glaube, es bedeutet, dass die Nazis den Juden alles wegnehmen. Auch unserm Papa. Und dann ist er ruiniert.' ,Ist unser Papa Jude?' ,Klar.' ,Bin ich auch einer?' ,Du auch.' ,Werden mir die Nazis meinen Teddybär wegnehmen?' ,Den nehmen sie bestimmt.' ,Er hat aber nur ein Ohr.' ,Das macht nichts.'"
Messer im Gepäck
Bücher und Welten, die Hilsenrath im Gespräch mit Volker Dittrich passiert. Von Halle nach Halle sozusagen. Hier betrieb der Vater das Möbelhaus Rasemann in der Großen Ulrichstraße, bis der NS-Boykott den Laden ruinierte und zum Umzug in ein kleineres Haus in die Kleine Klausstraße zwang. Edgar ist der einzige jüdische Knabe zuerst in seiner Klasse in der heutigen Neumarktschule, dann in einer Schule im Giebichenstein-Viertel, schließlich in der Privatschule Dr. Busse. Von Mitschülern wird das Kind rücksichtslos gedemütigt. Ein Lehrer malt ein Schwein an die Tafel und erklärt, das sei ein Jude. Juden essen keine Schweine, weil sie sich selbst nicht auffressen wollen. Hilsenrath widerspricht und wird mit dem Rohrstock gezüchtigt.
Gegen Ende des Abends, den der Schriftsteller Winfried Völlger mit Klezmer-Klängen auf dem Sopransaxophon begleitet, liest Edgar Hilsenrath von Rachephantasien, die ihn über Jahre mit der Stadt Halle verbanden. Wie er von Westberlin aus anreist, um den übelsten seiner Mitschüler mit dem Stilettmesser zu töten. Wie ihm dieser ein anderes Mal als SPD-Mitglied entgegentritt, das sich für Amnesty International engagiert. Das Messer bleibt stecken, Hilsenrath fährt ab. Nichts war gut, aber vieles bleibt möglich.