Er gilt als "Pegida-Versteher" Dresdner Bürgerrechtler Frank Richter fordert Demokratisierung der Demokratie
Halle (Saale) - Frank Richter ist ein Mann der Dresdner Zeitgeschichte. 1989 gehörte der gebürtige Meißner zu den Gründern der „Gruppe der 20“, der ersten oppositionellen Initiative, die in Dresden von der Staatsmacht als Gesprächspartner akzeptiert wurde. 2011 wurde der katholische Theologe zum Moderator der „Arbeitsgruppe 13. Februar“ berufen, die ein bürgerliches Protestbündnis gegen Neonaziaufmärsche zum Jahrestag der Zerstörung Dresdens koordinierte.
Von 2013 bis 2016 vermittelte der 57-Jährige zwischen den Pegida-Protestlern und ihren Gegnern, was dem vormaligen Priester den Titel „Pegida-Versteher“ und zwei Auftritte in der ARD-Talkshow „Anne Will“ einbrachte. Für Ostler, die nicht Wagenknecht heißen, etwas Unerhörtes.
Austritt aus der CDU wegen fehlender Streitkultur
Auf eigenen Wunsch verließ Richter 2017 die Landeszentrale für politische Bildung, die er von 2009 an geleitet hatte. Wenige Monate darauf trat er nach 25 Jahren aus der CDU aus. Ein Schritt, den der heutige Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche mit einer fehlenden Streit- und Diskussionskultur begründete. „Die Demokratie erschöpft sich nicht im Gang an die Wahlurnen“, sagte er damals.
Was er noch zu sagen gehabt hätte, veröffentlicht er jetzt. „Hört endlich zu!“ heißt das als „Streitschrift“ deklarierte Traktat, das Richter im Ullstein Verlag veröffentlichte. Der Anlass steht im Untertitel: „Weil Demokratie Auseinandersetzung bedeutet“.
Buch als Akt der persönlichen Notwehr
Das Büchlein ist einerseits ein Akt der persönlichen zivilen Notwehr in einem hysterisierten gesellschaftlich-geistigen Klima, das Richter als „Stichwortgeber der Rechten“ (Tagesspiegel) etikettiert. Andererseits ist es ein seltener Livebericht aus dem ostdeutschen Handgemenge.
Der bietet ein energievolles Ineinander von persönlichen Reflexionen und Erlebnisberichten. Richter eröffnet mit einer gesamtdeutschen „Lagebeschreibung“, um dann seine Pegida-Erfahrungen zu fassen, die 89er Revolution zu besichtigen und die allgemeine Politik zu begutachten.
Nach reportagehaften Exkursen, die einen Besuch in dem von Rechtsextremisten gekaperten mecklenburgischen Dorf Jamel und einen Wahlkampfauftritt von Angela Merkel in der Ostseestadt Barth beschreiben, biegt er in die „Was tun?“-Kurve ein.
Frank Richter spricht von Aushöhlung der Demokratie
Was Richter feststellt, ist eine „Aushöhlung der Demokratie“, befördert durch ein „technizistisches Politikverständnis“, das Entscheidungen diktiere statt erkläre, das Opposition „ausschließlich als Angriff“ wahrnehme und das elementare staatliche Aufgaben nicht mehr erledige. Die Flüchtlingskrise wird eher beiläufig, aber als beispielhaft erwähnt.
Die Grenzöffnung 2015 begreift Richter „anfänglich als eine humanitär gut begründete, von Vielen mitgetragene Ausnahmeentscheidung“, deren fehlende Erklärung und Moderation in die Gesellschaft hinein „starke Zweifel an der Handlungsfähigkeit des Staates“ auslösten.
Grenzöffnung rückte alte Probleme neu in den Blick
Ein Umstand, der ältere Fehler neu in den Blick gerückt habe: den ländlichen Mangel an Lehrern, Polizisten, Ärzten oder Justizvollzugsbeamten zum Beispiel. Vor allem der Lehrermangel gilt Richter als „eklatantes Staatsversagen“, das in Sachsen dazu führte, dass Eltern einspringen mussten, um die gesetzliche Aufsichtspflicht für Kinder zu garantieren.
Die 89er Revolution, die eine „autoritäre, in Teilen totalitäre, repressive und menschenverachtende Ordnung“ hinwegfegte, begreift der Autor als „unvollendet“. Weil es bis heute „keine von der gesamten deutschen Bevölkerung beschlossene Verfassung gibt“, und weil der Westen zwar „zeitweise“ den „Verstand“, nicht aber die „Herzen“ der Ostler erreicht hätte; letzteren attestiert Richter „Aneignungs- und Akzeptanzdefizite“ in Sachen Demokratie.
Ein neues 1968?
Auch sich selbst. Die Pegida-Gänger durchweg zu „Neonazis“ zu erklären, wie er es selbst 2014 getan hatte, sei falsch; Richter sieht hier auch echte Sorge im Umlauf. Um die aufzufangen, fordert er eine durch „Elementarisierung, Personalisierung, Reduktion“ verbessere Kommunikation, also eine genaue, verlässliche Ansprache.
Zudem eine doch immer notwendige „innere Demokratisierung“ der Demokratie. Eine Art neues 1968, ein „gesellschaftliches Brainstorming“ inklusive.
Richters Buch ist keine echte Streitschrift
Es ließe sich gegen das Buch einwenden, dass es nicht wirklich eine Streitschrift ist: Es fehlt der genau adressierte Gegner. Nicht wenige von Richters Thesen sind überraschungsarm oder zu wenig ausgeführt, manches ist nur hinschwadroniert, wie die Mitteilung, dass der Neoliberalismus „wie eine Furie über das Land“ gezogen sei und eine „Schneise geistiger Verwüstung“ hinterlasse habe.
Komplett fehlt der Blick auf die Unter-50-Jährigen, auf die Lage jenseits des deutschen Tellerrandes und darauf, dass es zahllose innovative Politik-Modelle gibt, die Richter, der „Ideenlosigkeit“ beklagt, nicht erwähnt.
Frank Richter übersetzt Erfahrung in politisches Handeln
Doch wichtiger ist das: Hier versucht ein Vor-Ort-Akteur eine ostdeutsche Erfahrung öffentlich in politisches Handeln zu übersetzen. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass die von Westen her sanktionierte, vor Ort institutionell beförderte inner-ostdeutsche Entfremdung eine große Belastung ist, die notwendige gesellschaftliche Debatten stört.
Und, dass Herrschaftshandeln sachlich nachvollziehbar und nicht moralistisch nachtragend erklärt werden muss. Die Zeit der Zuschauerdemokratie ist vorbei. Auch für Frank Richter. Was nicht im Buch steht: Im Herbst stellt er sich der Wahl als Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Meißen. (mz)
››Frank Richter: Hört endlich zu! Ullstein, Berlin 2018, 96 Seiten, 10 Euro