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Theater „Drecksarbeit“ an der Volksbühne? Lilienthal folgt Pollesch

Die Volksbühne ist eines der renommiertesten Theater im deutschsprachigen Raum. Nun wird Matthias Lilienthal, der schon unter Castorf arbeitete, Nachfolger des überraschend gestorbenen René Pollesch.

Von Sabrina Szameitat, dpa Aktualisiert: 07.02.2025, 13:55
Übernimmt die Intendanz der Volksbühne: Theatermacher Matthias Lilienthal.
Übernimmt die Intendanz der Volksbühne: Theatermacher Matthias Lilienthal. Soeren Stache/dpa

Berlin - Mit Matthias Lilienthal übernimmt einer der bekanntesten, aber auch streitbarsten deutschen Theatermacher die Intendanz der renommierten Berliner Volksbühne. Interessant ist die Konstellation, in der die Intendanz des 65-Jährigen ab 2026/27 organisiert wird: Zum beratenden Team gehört die Choreographin und Künstlerin Florentina Holzinger, die in den letzten Jahren mit provokanten und blutigen Performances für Furore in der Kulturwelt sorgte. 

Neben Holzinger (39) soll künftig die Choreographin Marlene Monteiro Freitas (46) zum beratenden Team gehören.

Personalien an dem renommierten Theater, das jahrzehntelang von Frank Castorf geleitet wurde, hatten zuletzt für Aufsehen gesorgt. Nach dem überraschenden Tod des Dramatikers und Theater-Stars René Pollesch, der 2021 bis 2024 die Intendanz innehatte, war eine Übergangslösung für die Intendanz gescheitert. Das deutsch-norwegische Künstlerduo Ida Müller und Vegard Vinge sollte ein Interims-Team bilden, sagte aber ab - spekuliert wurde, dass dies an den Kürzungen im Berliner Kulturetat lag. 

Herausforderungen durch Kürzungen im Kulturetat

Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) präsentiert nun eine passende Lösung für die traditionsreiche Bühne, die für gesellschaftskritische und provokante Inszenierungen bekannt ist. 

Das Dreierteam übernimmt keine leichte Aufgabe. Wie viele andere Kultureinrichtungen ist die Volksbühne von Sparmaßnahmen in der Hauptstadt betroffen. Das Haus muss in diesem Jahr zwei Millionen Euro einsparen. Er missbillige das extrem, sagte Lilienthal. Er versuche, dagegen zu lobbyieren und mit Chialo Lösungen für das Budget zu finden. 

Neben den Kürzungen muss Lilienthal den Spagat zwischen künstlerischer Qualität und Besucher-Auslastung schaffen. Das war zu seiner Zeit an den Münchner Kammerspielen - die er zwischen 2015 und 2020 als Intendant leitete - keine einfache Aufgabe.

Lilienthal: Bekannt für experimentelles Theater, das polarisiert

Der 65-Jährige ist bekannt für experimentelles und avantgardistisches Theater. Er setzt auf interdisziplinäre und performative Formate, die oft den traditionellen Theaterrahmen sprengen. Das kam bei Teilen des Münchner Publikums und der bayerischen Politik nicht immer gut an - aber bei der Kritik und Fachleuten, die die Kammerspiele unter Lilienthal zweimal in Folge zum „Theater des Jahres“ wählten.

Performance-Star Florentina Holzinger formulierte es am Freitag so: Sie sei „urhappy“, dass er den Job übernehme, „die Drecksarbeit sozusagen“. 

„Mir hat die Arbeit in München extrem viel Spaß gemacht“, sagte Lilienthal bei der Vorstellung seiner Personalie in Berlin. In dem Moment, in dem es so richtig Spaß gemacht hatte, habe es aber nicht weitergehen dürfen. 

Volksbühne sei das „schönste Theater der Welt“

„Ich hab' Lust, das noch mal neu zu erfinden.“ Die Volksbühne sei, glaube er, das „schönste Theater der Welt.“ Ihm mache es Spaß, Häuser zu leiten. „Ich bin ein Berliner und mir liegt das Schicksal der Volksbühne total am Herzen“, sagte er. 

Für die Volksbühne ist Lilienthal kein Unbekannter. Als Castorfs Chefdramaturg und Stellvertreter wirkte er zwischen 1991 und 1998 bereits an dem Haus. Lilienthal, der aus Berlin-Neukölln stammt, leitete zudem von 2003 bis 2012 das Berliner HAU Hebbel am Ufer und feierte dort künstlerische Erfolge. 

Holzinger und die kapverdische Choreographin Monteiro Freitas sollen ein sogenanntes Artistic Board bilden. Man wolle sich regelmäßig zusammensetzen und wesentliche Entscheidungen des Hauses besprechen, erklärte Lilienthal. 

„Es gibt trotzdem eine Möglichkeit der letzten Entscheidung bei mir“, sagte Lilienthal. Holzinger und Freitas sollten möglichst viel an dem Haus künstlerisch arbeiten können. Das Konzept sei noch „extrem work in progress“, betonte die Choreographin Holzinger, die für ihre spektakulären Bühnenstücke mit nackten Frauenensembles bekannt ist. Sie hat schon einige Male an dem Haus inszeniert („Ophelia's Got Talent“, „Sancta“).

Auch Holzinger bewarb sich auf Intendanz

Mehr als 30 Bewerbungen waren für die Leitung eingegangen - auch von Holzinger. Sie habe sich Sorgen gemacht, dass sich zu wenig Frauen bewerben und sei mit dem Haus eng zusammengewachsen, erklärte sie. Letztlich habe sie ihre Bewerbung aber wieder zurückgezogen - sie könne sich eine Intendanz aktuell nicht vorstellen. 

Für die Neubesetzung hatte sich Chialo von einem Expertengremium beraten lassen. Lilienthals Vertrag läuft bis Sommer 2031. 

Tanz soll ein Drittel des Programms ausmachen

Lilienthal gab in Berlin einen ersten Vorgeschmack, was ihm für das Haus im früheren Ost-Berlin inhaltlich vorschwebt. So wolle er Identitätsfragen rund um Leben in der DDR neu stellen. 

Außerdem soll etwa Tanz an der Volksbühne dazukommen. Dies solle vielleicht rund ein Drittel des Programms ausmachen, sagte er. Es sollen aber auch weiter große Schauspiel- und Sprechtheaterarbeiten gezeigt werden.

Er gehe davon aus, dass es zu rund 95 Prozent ein internationales Line-up der Regisseure geben werde. Das sei ein „bewusster Widerstand gegen die Renationalisierung, die politisch in diesem Land und im deutschsprachigen Raum und in Europa passiert“.