Dokumentarischer Roman: Das Massaker von Columbine
Berlin/dpa. - Joachim Gaertner hat für seinen dokumentarischen Roman 25 000 Seiten Ermittlungsakten zum Attentat an der Columbine Highschool vor zehn Jahren auf 187 Seiten verdichtet. «Ich bin voller Hass - und das liebe ich» lautet der Titel des Buches, ein Zitat aus dem Munde eines der beiden Täter.
Warum hassten die beiden Amokläufer so sehr? Gaertner kann und will nicht erklären, wann und warum ihre Fantasien in Realität umschlugen und in jenes nur 17,5 Minuten dauernde Massaker mündeten, bei dem am 20. April 1999 15 Menschen starben und 21 verletzt wurden. Wenn dieses Dokument etwas erklärt, dann dies: dass es keine einfache Erklärung für ein solch unfassbares Geschehen gibt!
Eric und Dylan waren hochintelligent, belesen, kamen aus «guten» Elternhäusern, waren exzellente Schüler an jener Highschool, die sie an jenem Frühlingstag vor zehn Jahren heimsuchten. Sie liebten Computerspiele, wie Millionen Gleichaltrige auch. Sie fühlten sich verkannt, von Mädchen zu wenig beachtet, wurden an der Schule (maßvoll) gemobbt, hatten Minderwertigkeitskomplexe und gleichzeitig Allmachts- und Überlegenheitsfantasien, wie Millionen andere in der Pubertät. Viele von Erics und Dylans Tagebucheinträgen könnten so oder so ähnlich von Millionen Jugendlichen geschrieben worden sein: voller Selbstmitleid, aber auch -ironie, voller Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, stets auf der Suche nach einem Platz in der Welt.
Auch die romantischen Träumereien, die Äußerungen und Reflexionen auf ihren Websites sind nicht außergewöhnlich. Nichts davon lässt den zwingenden Schluss zu, dass in beiden eine Zeitbombe tickte. Dabei sahen sie sich als «Natural Born Killers», aber Gaertner ist sich sicher, dass beide klug genug waren, zu erkennen, dass der Film von Oliver Stone als Reflexion über Gewalt gemeint war. Mit großer sprachlicher Kraft schreiben beide kluge Aufsätze über die großen Werke in der Weltliteratur, die sich mit dem «Bösen» befassen, über die Schrecken und Verbrechen der Nazizeit oder Charles Manson, und bei ihrer Lektüre ist man versucht, Zeichen, Andeutungen auf ihre Tat zu finden. So verfasst Eric beispielsweise einen politisch korrekten Aufsatz über die Nazigräuel und vermerkt in einer privaten Aufzeichnung danach: «Und übrigens, dieser Nazi-Aufsatz stachelt meine Liebe zum Töten noch mehr an.»
Beide werden ein Jahr vor ihrem Amoklauf straf- und damit auffällig: Es ist ein Vergehen, das ohne ihre Folgetat als Jugendsünde abgetan worden wäre. In einem staatlichen Erziehungsprogramm werden sie über das Falsche ihres Tuns belehrt, ihr durchaus erkanntes Aggressionspotenzial - auch hier wieder die Frage: Welcher 17-Jährige verfügt nicht darüber? - soll in sozialverträgliche Bahnen gelenkt werden. Eric und Dylan meistern das Programm mustergültig: Der Abschlussbericht über beide lässt ahnen, zu welcher Mimikry die beiden fähig waren. Sie haben Psychologen und den Fachleuten das geliefert, was diese von «Geläuterten» hören und sehen wollten. Beide sind zu diesem Zeitpunkt bereits entschlossen, nach ihrer Bewährungszeit zuzuschlagen. «Es gibt nichts, was ihr hättet tun können, um das zu verhindern», sagt Eric in einer Videobotschaft an die Nachwelt. «Es gibt nichts, was irgendjemand hätte tun können, um das zu verhindern.»
Gaertners Psychogramm der Täter lässt niemanden kalt, denn: «Sie sind uns näher, als wir glauben wollen.» Gleichwohl muss er sich die Frage gefallen lassen, ob es richtig ist, dieses Buch zu veröffentlichen und den Tätern damit endgültig die Berühmtheit zu verschaffen, nach der sie sich sehnten. Nicht umsonst wird diskutiert, ob die weltweite Verbreitung von Bildern und Berichten über dieses und die folgenden Schulmassaker ein Ansporn für Nachahmungstäter sein kann. Bewusst verzichtet der Autor auf Antworten auf Fragen, die niemand zu beantworten imstande ist. Er lässt die Dokumente für sich selbst sprechen.
Joachim Gaertner
Ich bin voller Hass - und das liebe ich
Eichborn Verlag, Berlin
187 S., Euro 16,95
ISBN 978-3-8218-5848-7