Die Rote Armee in der DDR Die Rote Armee in der DDR: Eine Handgranate zum Geschenk

Halle/MZ. - Neuland betreten Kowalczuk und Wolle jedochbei ihrer Erforschung der in der DDR weitestgehendunbekannten Lebenssituation der roten Krieger- hier beginnt die Kür. Obwohl in der Propagandaomnipräsent, waren sie in ihren Kasernen versteckt.Um so mehr raunte man Geschichten. Angst vorVergewaltigung war ein aus der Erfahrung dessowjetischen Vormarsches durch Ostpreussengespeistes Trauma, dass in der in vielen Familientradierten Wahrnehmung eine Rolle spielte.Dazu kamen Gerüchte über die Behandlung derSoldaten durch ihre Offiziere sowie Jagd undLiquidierung von Deserteuren. Das Bestürzende:Nach akribischer Forschung können die Autorendie dunklen Gerüchte zum Teil drastisch bestätigen.
Die Lebensbedingungen der einfachen Soldatenwaren primitiv und brutal. In ihrer mindestenszweijährigen Dienstzeit schliefen sie in Schlafsälenbis zu 120 Mann, hatten einen harten militärischenDrill und waren einem gnadenlosen, im NVA-Jargon"EK-Bewegung" genannten, Disziplinierungsmechanismus,der "Dedowtschina", ausgeliefert. Viele Rekrutenwaren diesem Druck nicht gewachsen - und desertiertenoder verübten Selbstmord. Überrascht ist man,wenn man nun die publizierten Zahlen liest.Schätzungen gehen davon aus, dass von den3000-4000 der jährlich in der DDR ums Lebengekommenen Soldaten sich etwa ein Viertelselbst tötete.
Auch die Desertionsrate war hoch. So ließensich aus den Unterlagen des Ministeriums fürStaatssicherheit einige Tausend Desertionenrekonstruieren. Allein "in den achtziger Jahrenflüchteten jährlich etwa 400 - 500 Soldatenaus ihren Einheiten", so die Autoren. BeiErgreifung drohte 15 Jahre Lagerhaft oderTod.
Der Volksmund behauptete, dass "die Russenmit ihren Leuten kurzen Prozess machen". Kowalczukund Wolle können dies belegen. 1986 entferntensich 406 Soldaten, 11 mit Waffen, von derTruppe. 1987 lag die Zahl der Fahnenflüchtigenbei 446, von denen 17 bewaffnet waren. Vonden Waffen wurde verzweifelt Gebrauch gemacht.Am 9. September 1985 flüchtete ein Soldatmit einer Kalaschnikow und 60 Schuss aus derGarnison Eckardtshausen, durchbrach eine Absperrung,erschoß einen Volkspolizisten und wurde dannselbst tödlich getroffen.
Ein anderer setzte sich im August 1985 inThüringen ab. Mit vorgehaltener Maschinenpistoleerbeutete er ein Taxi. Am Bahnhof in Jenawurde er gestellt und von 80 Projektilen durchsiebt.Streng geheim waren auch Angaben über verübteStraftaten der Roten Armee. So gehörten zuden häufigsten Delikten in den siebziger undachtziger Jahren "Diebstahl, auch unter Anwendungeiner Waffe, schwerste Verkehrsunfälle unterAlkohol, Vergewaltigungen und Raubüberfälle".Allein für den Zeitraum von 1976 bis 1989lassen sich 51 Morde und 782 Vergewaltigungenbelegen. Teilweise war es persönliche Not,die sowjetische Soldaten veranlasste, Waffenund Munition illegal zu verkaufen - ein Umstandder die Staatssicherheit sehr beunruhigte,da sie die Bewaffnung von "Konterrevolutionären"befürchtete. So wurde einem Berliner Arbeiter1981 eine Kalaschnikow für 300 Mark angeboten.Ein Unteroffizier hatte einen richtigen Handelaufgezogen und dealte seit 1984 mit Waffenund Munition. Einen vermeintlichen Käuferwollte er mit einer geschenkten Handgranatezu weiteren Käufen animieren - Pech, der Kundekam von der Stasi.
Das Verdienst von Kowalczuk und Wolle liegtin der Entmystifizierung der einst heldischüberhöhten Sowjetsoldaten. Sie decken denunbekannten Mikrokosmos der abgeschirmtenTruppen schonungslos aber fair und unter Benennungder sozialen wie politischen Ursachen im historischenGesamtzusammenhang auf. Ein Lesestoff derüberrascht und erschüttert.