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Deutsch-deutsche Geschichte Deutsch-deutsche Geschichte: «Schmidt, nimm mich mit!»

Von Christian Eger 12.12.2006, 19:54

Güstrow/MZ. - "Da war ich auf dem Boden der DDR", sagt Schmidt - und schweigt. Schließlich lässt sich der 87-Jährige doch noch zu einer Bemerkung über sein Treffen mit Erich Honecker hinreißen, das ihn heute vor 25 Jahren für drei Stunden nach Güstrow führte. Honecker, doziert Schmidt, "war keine besonders große Figur. Er war jemand, für den man in gewisser Weise Mitleid, gemischt mit Sympathie, haben konnte. (...) Die Begegnung mit ihm ist ohne historische Bedeutung."

Eine ostdeutsche Show

Hier irrt Helmut Schmidt - und er hat wohl Gründe dafür. Dabei ist es nicht die politische Lage vor 25 Jahren, die dieses Treffen so denkwürdig macht - in der Nacht zum 13. Dezember 1981 wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt. Es ist die Tatsache, dass es der DDR-Führung - wie nie zuvor und nicht mehr danach - gelungen war, eine lebendige Stadt in ein atemraubend perfektes "Potemkinsches Dorf" zu verwandeln, einen Bevölkerungsaustausch vorzunehmen, der über drei Stunden eine DDR bescherte, wie sie sich Honecker wohl immer gewünscht hatte.

Ein logistisch und handgreiflich einzigartiges Experiment war da in der Barlach-Stadt vollzogen worden. Gemäß dem Brecht-Wort von 1953: Wenn die Regierung unzufrieden sei, solle sie doch ihr Volk auflösen und ein neues wählen. Wer heute wissen will, zu welchen Spitzenleistungen die DDR auch fähig war, der soll sich Michael Krulls Dokumentation "Drei Stunden Güstrow" (1994) ansehen.

Es war der Wunsch Helmut Schmidts, der am 11. Dezember in Ostberlin eingetroffen war, Barlachs Skulptur des "Schwebenden Engels" (1941 eingeschmolzen, 1951 neu gegossen) an ihrem Originalschauplatz im Dom zu Güstrow zu erleben. Schmidts Wunsch war Honecker ein Alarmsignal. An Mielke: "Der will dort eine gesamtdeutsche Show abziehen". Nicht noch einmal sollte sich Erfurt 1970 ereignen, wo Hunderte Ostler dem Kanzler Willy Brandt zujubelten.

Die Stasi startet die Aktion "Dialog": 37 169 Einwohner zählt Güstrow Ende 1981, davon werden 644 als "negativ-feindlich" herausgefiltert und jeweils "bearbeitet". Alles wird erfasst: "Schmidt, nimm mich mit", schrieb Mario, 10. Klasse, an einer Güstrower Schule an die Wand. Am Sonntag, den 13. Dezember, werden ab 6 Uhr die Zufahrtsstraßen gesperrt, ab 8 Uhr ist der Außenring geschlossen. Von 13 bis 14 Uhr wird der Markt geräumt, 14 Uhr vollzieht sich die "Einführung progressiver Kräfte": Stasi-Mitarbeiter, SED- und Blockpartei-Mitglieder, unter anderem aus Halle und Magdeburg herbeigekarrt. 5 103 Bürger stellen das Volk dar. Alle geschult. Wörtliche Anweisung: "Verkrampfungen vermeiden!" Vor allem: Honecker und die DDR loben. Was dann auch ab 15 Uhr geschieht. Um 17 Uhr wird Schmidt von Honecker am Bahnhof verabschiedet: "Herr Schmidt, ein Bonbon habe ich noch!" Gelächter, Blitzlichter, Abfahrt und Schluss.

Von wegen. Im Juli dieses Jahres ist Michael Krull gebeten worden, seinen Güstrow-Film vor Gegnern des Bush-Besuches in Stralsund vorzuführen. Er habe abgelehnt, sagt der 63-jährige Regisseur, der in Carlsdorf bei Güstrow lebt. "Ich finde es nicht korrekt, Äußerlichkeiten für eine Gleichsetzung heranzuziehen. Mir ging es um die konkrete Analyse eines gesellschaftlichen Systems." Trotzdem bleibe der Güstrow-Stralsund-Vergleich "ein heißes Thema" in Mecklenburg-Vorpommern, das 14 Millionen Euro für die Bush-Visite zahlen muss. Rund 12 500 Polizisten, Sicherheitsbeamte und Secret Service-Mitarbeiter beschäftigte der US-Präsident in Rostock, Schmidt in Güstrow zog 35 000 Einsatzkräfte.

Und schließlich Bush

Heute findet im Schloss Güstrow ein Gedenkprogramm statt: Fotoschau, Kolloquium (u. a. "Sicherheitspolitischer Vergleich Güstrow 1981 und Stralsund 2006"), Filmvorführung und Zeitzeugen-Podium, moderiert von Michael Krull. Er hat bislang unbekannte Akten einsehen können. So stimme es nicht, dass Güstrow eine von Uniformen "grüne Stadt" gewesen sei: 4 833 Stasi-Leute standen in der Stadt neben "nur" 270 Polizisten.

Einem Zeitungsaufruf, sich zu erinnern, sei kein einziger Stasi-Mitarbeiter oder SED-Genosse gefolgt, sagt Krull. Vier Schulen wurden 1981 von der Stasi für "Zuführungen" genutzt: Welche, das war erst jetzt aus den Akten zu erfahren. Ein 18-jähriger, der für die Schule versuchte, den Tag zu recherchieren, sei vor Ort nur auf Abwehr gestoßen. Und Helmut Schmidt? Bereits 1994 sei es dem NDR nicht gelungen, ihn vor die Kamera zu bekommen, sagt Krull. Güstrow war für Schmidt eine Niederlage.