Dessau Dessau: Drei Güterwaggons voller Schätze aus Anhalt
DESSAU-ROSSLAU/MZ. - Es sind unscheinbare Etiketten, die seit einigen Tagen in der Anhaltischen Gemäldegalerie von einem kaum fassbaren Glücksfall erzählen: "Verlust 1946 / 1958 Rückgabe" steht unter jenen Bildern, die genau vor 50 Jahren ihren Weg aus der Sowjetunion zurück nach Dessau fanden. Rund 600 Gemälde, 1 000 Handzeichnungen und 10 000 Druckgrafiken waren es - und damit zwar mehr, als die damalige Galerie-Direktorin Julie Harksen erwartete, aber weniger, als zwölf Jahre zuvor aus dem Kalibergwerk Solvayhall geraubt worden waren.
Dort hatten die Museumsmitarbeiter ihre Schätze vor den anrückenden Alliierten in Sicherheit gebracht - sowie vor dem anhaltischen Gauleiter Rudolf Jordan, der die historischen Sammlungen getreu der Doktrin der "verbrannten Erde" kurz vor Kriegsende zerstören wollte. Nachdem sich zunächst einige amerikanische Soldaten an der Beute bedient hatten, wurde das Konvolut 1946 systematisch in drei Güterwaggons verladen und nach Moskau sowie nach Leningrad transportiert. Die Anhaltische Gemäldegalerie, deren ursprüngliches Domizil im Palais Reina den Bomben zum Opfer gefallen war, schien ihrer wichtigsten Bestände dauerhaft beraubt.
Wenn man nun durch die Dauerausstellung geht, ahnt man die Rührung jener Besucher, denen am 8. Mai 1959 die erste Sichtung der "Dessauer Kunstschätze - von der Sowjetunion gerettet" erlaubt wurde. Regionalhistorisch bedeutsame Gemälde wie das Porträt des Fürsten Leopold I. von Adam Manyoki, Lucas Cranachs Brustbild des Johann IV. von Anhalt und das Friedrich Wilhelm Güte zugeschriebene Konterfei der Henriette Amalie von Anhalt-Dessau waren ebenso unter den Heimkehrern wie das Bildnis des Caspar David Friedrich, das die Ballenstedterin Caroline Bardua gemalt hatte. Frühe Werke des anhaltischen Malers Franz Krüger fanden sich in den Kisten neben Bildern des Dessauer Romantikers Heinrich Olivier.
Schwerer noch als diese anhaltischen Solitäre wogen die großen Werkgruppen der altdeutschen und niederländischen Meister - ganze kunstgeschichtliche Epochen, dank derer die Anhaltische Gemäldegalerie heute wieder die wichtigste Sammlung Alter Meister in den Landesgrenzen von Sachsen-Anhalt beherbergt. Man kann sich die nachträgliche Advents-Freude von Julie Harksen vorstellen, als sie zwischen Weihnachten und Neujahr 1958 nach Berlin fuhr, um ihre Bestände unter den 300 Waggon-Ladungen zu identifizieren. Dass die Nestorin der anhaltischen Kunstgeschichte, die bis zu ihrem Tod 1980 unermüdlich für die Galerie arbeitete, die Gabe als Chance begriff, wird man im kommenden Jahr feiern können. Dann jährt sich zum 50. Mal die Eröffnung der Gemäldegalerie im Schloss Georgium, die ohne die Rückerstattung der Beutekunst mangels Masse undenkbar gewesen wäre.