DDR-Kinderlied DDR-Kinderlied: Erinnerung an "Kleine weiße Friedenstaube"

halle (Saale) - Dieses Lied konnte ich – Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre – als christlich erzogenes Kind guten Gewissens mitsingen: „Kleine weiße Friedenstaube“. Und ich sang es mit klammheimlicher Opposition, denn die Taube fliegt „übers große Wasser“, also über die Ostsee nach Skandinavien oder noch größere Wasser: nach Amerika, nach Australien. Den Normalsterblichen war das in der DDR, besonders nach 1961, keineswegs vergönnt.
Angeregt vom Vogelflug schrieb ein Mitschüler in einem Aufsatz mit freiem Thema sinngemäß: Wäre ich eine Taube, käme ich unerschossen über alle Grenzen. Diese Arbeit bekam er nie zurück.
Die Taube umrundet die Erdkugel, um allen Menschen Frieden zu bringen. Es ist keines der ideologischen Lieder mit martialischen Zeilen wie: „Spaniens Himmel breitet seine Sterne über unsern Schützengräben aus (…) bald geht es zum neuen Kampf hinaus.“ Oder: „Auf, auf zum Kampf! / Zum Kampf sind wir geboren! / Auf, auf zum Kampf! / zum Kampf sind wir bereit!“
Von Picasso inspiriert
Im Repertoire der Pionierlieder stand das Herzerwärmende neben dem Hasserfüllten. Beides erklang aus den Mündern von uns Kindern, deren Großväter und Väter im grässlichsten aller bisherigen Kriege verwundet wurden, ums Leben kamen, vermisst blieben.
1949, vier Jahre nach diesem Krieg, erblickte in Nordhausen die damals 23-jährige Erika Schirmer in einem Schaufenster Pablo Picassos Plakat für die Pariser Weltfriedenskonferenz. Es zeigt die Taube mit einem Zweig im Schnabel. Spontan verfasste sie (noch unter ihrem Mädchennamen Mertke) das Lied – vier Strophen Text mit eingängiger Melodie.
„Kleine weiße Friedenstaube“ fand Eingang in viele Gesangbücher der DDR. Wenigstens zwei Generationen in Mittel- und Ostdeutschland lernten das Lied.
Obgleich Picasso wegen seiner „formalistischen Experimente“ von der SED-Kulturpolitik geschmäht wurde, schmückte seine Taube unzählige Wimpel und Fahnen bei Pionier- und FDJ-Appellen.
Sagte man uns, wer die Taube gezeichnet hatte, wo doch der Künstler in einem Land lebte, das zum kapitalistischen System gehörte? Mag sein.
Was wir garantiert nicht erfuhren – jedenfalls nicht in der atheistischen Schule – war der biblische Ursprung vom Bild der Taube. Handelt es sich doch bei dem Zweig in ihrem Schnabel eindeutig um den Ölzweig, der dem Arche-Kapitän Noah das Ende der Sintflut anzeigte: Die Taube als Botin des Friedens zwischen Gott und den Menschen.
Nein, dieses Hintergrundwissen wurde nicht vermittelt, galt nicht nur als unnötig – die Religion und die Religiösen waren in der Schule dem Spott ausgesetzt.
In geschlossenen Gesellschaften werden Widersprüche nicht aufgelöst. Die Taube war omnipräsent in Bild und Ton. Und das Lied über sie hat die DDR-Zeit überdauert.
Auf der nächsten Seite: Erika Schirmer ist auch mit 88 Jahren noch produktiv. Und warum das ihr berühmtes Kinderlied eine Indiz dafür ist, wie unterschiedlich die DDR erlebt wurde.
Es ging nicht gerade um die Welt, fand aber, auch in andere Sprachen übertragen, seine Nistplätze. So wurde es zum Beispiel von dem kanadischen Liedermacher Perry Friedman (1935–1995) gesungen und gehört zum Repertoire von Kinderchören in Finnland, Österreich, Polen. Aktuelle Aufnahmen gibt es auch von der Gruppe Aynil, den Bierpatrioten, von Traumzeit & The Kids, von Kai Dörfel und den Waldspitzbuben.
Bis heute schrieb Erika Schirmer etwa 800 Lieder und Gedichte. „Kleine, weiße Friedenstaube“ ist ihr erstes und erfolgreichstes Lied.
Inzwischen 88-jährig, ist sie immer noch aktiv und kreativ: Sie spielt Klavier, Flöte und Gitarre. Wöchentlich druckt die Zeitung ein neues Gedicht von ihr, und jährlich erscheint im Eigenverlag ein Kalender mit Gedichten und Scherenschnitten, die auch immer wieder in Ausstellungen gezeigt werden.
Es soll noch einmal gesagt werden, dass dieses Lied ideologisch unverdächtig ist und wegen allgemeingültiger Aussagen nachhaltig beliebt wurde. Seine Wirkung beruhe auch darauf, dass (wahrscheinlich unbewusst) an religiöse Denkmuster angeknüpft wurde, sagt Jens Marggraf, Komponist und Professor für Musiktheorie an der Martin-Luther-Universität Halle. Die Taube sei Symbol des Heiligen Geistes, die Bitte „bringe allen Menschen Frieden“ entspräche dem „dona nobis pacem.“ Und übrigens enthalte ja auch die ebenfalls 1949 entstandene Nationalhymne der DDR mit dem ersten Wort ihres Textes den christlichen Begriff der Auferstehung.
Die kleine weiße Friedenstaube wäre ideologiefrei geblieben, hätte nicht der Steiermärker Harald Rosenberger jetzt Zeilen hinzu gereimt: „Im Schulhof als Kinder standen wir stramm / und sangen das Lied, das ich heute noch kann. / Blau war unser Halstuch und weiß jedes Hemd, / erzogen zum Frieden und keiner war fremd.“
Verschiedene Erfahrungen
Woher weiß er das so genau, rätselt man, bis die Recherche ergibt: Der Senner, Sänger und Philosoph – so die Angaben auf seiner Homepage – kam 1953 in Leipzig zur Welt und verbrachte dort seine Kindheit und Jugend, bis es ihn nach Österreich verschlug.
Erika Schirmer hat sich vom Inhalt der Zusatzstrophe distanziert. „Keiner stand stramm“, sagt sie. Und ich kann aus Erfahrung hinzufügen, dass man als Nichtpionier ohne blaues Halstuch durchaus „fremd“ war. Vielleicht gehörten ja in Rosenbergers Klasse alle Kinder der Pionier-Organisation an.
„Kleine weiße Friedenstaube“ ist ein wirklich gutes Kinderlied. Die Auseinandersetzung damit macht einmal mehr deutlich, wie unterschiedlich die DDR erlebt wurde, wie verschieden die Erinnerungen sind – oder wie verschieden groß auch die Bereitschaft, Erlebtes zu verdrängen und zu verklären.
Unser Autor Christoph Kuhn lebt als freier Schriftsteller in Halle.