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Winterwahlkampf in Deutschland Das große Bundes-Bibbern

Glühwein statt Grillwurst: Nach drei Jahrzehnten wird der Bundestag erstmals wieder im Winter gewählt. Das bringt Herausforderungen mit sich - so kaufte sich Karl Lauterbach neue Unterwäsche.

Von Christoph Driessen, dpa Aktualisiert: 06.02.2025, 12:29
Das politische Berlin muss erstmals einen Wahlkampf im Winter meistern (Archivbild).
Das politische Berlin muss erstmals einen Wahlkampf im Winter meistern (Archivbild). Jan Woitas/dpa

Berlin - Kann Deutschland Winterwahlkampf? Jedenfalls ist das Land ein wenig aus der Übung gekommen, denn in den vergangenen 30 Jahren fielen alle Bundestagswahltermine in den Herbst oder Spätsommer. Das große Bundes-Bibbern trifft Wahlkämpfer wie Wahlvolk etwas unvorbereitet. 

Der letzte richtige Winterwahlkampf war 1987

Wahlkampf mit kalten Füßen ist lange her. 1983 wurde der Bundestag in vorgezogenen Neuwahlen nach dem Bruch von Helmut Schmidts sozialliberaler Koalition am 6. März gewählt, vier Jahre später am 25. Januar 1987 und dann wieder am 2. Dezember 1990. 

Der letzte wirkliche Winterwahlkampf war der von 1987 - damals lagen Teile der Republik unter Eis und Schnee begraben, an Wahlkampfständen wurden Schals und Eiskratzer verteilt. 

Am Wahltag selbst fragte die „Hamburger Morgenpost“ sogar: „Fällt die Wahl aus?“ Das geschah nicht, doch die Wahlbeteiligung sackte von 89 auf 84 Prozent ab. 

Insgesamt hatte der Winterwahlkampf eine so abschreckende Wirkung, dass man den Wahltermin fortan konsequent immer weiter nach vorn zog, bis er wieder im September lag - ideal zwischen Sommerferien und Herbstbeginn. 

Karl Lauterbach hat sich Funktionsunterwäsche gekauft

Karl Lauterbach macht der derzeitige Winterwahlkampf zu schaffen. „Ich bin eigentlich eine Frostbeule und von daher ist dieser stetige Straßenwahlkampf bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt keine Freude für mich“, gesteht der Bundesgesundheitsminister der Deutschen Presse-Agentur.

„Gegen die Eiseskälte habe ich mir extra einen dicken langen Wintermantel und Funktionsunterwäsche gekauft“, sagt Lauterbach. Dazu gehörten lange Unterhosen aus Gewebe, das extra warm halte. „Außerdem habe ich zum ersten Mal in meinem Leben mit Handwärmern gearbeitet.“ 

Am vergangenen Samstag habe er in seinem Wahlkreis in Leverkusen vier Stunden an einem Stück am SPD-Wahlkampfstand ausgeharrt. „Das geht nur, wenn ich dabei ganz viel heißen Kaffee trinke.“ Auch Bewegung sei wichtig, um in Form zu bleiben. Deshalb spiele er regelmäßig Tischtennis, unter anderem mit seinem Freund Günter Wallraff. 

Im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen im Sommer oder Herbst sei es jetzt auf jeden Fall schwieriger, mit den Wählerinnen und Wähler ins Gespräch zu kommen. Um dennoch Begegnungen möglich zu machen, organisiere er Townhall-Veranstaltungen etwa in einem Bistro, einem Kulturbunker und einem Kinosaal. „Aber es bleibt dabei: Winter ist eine suboptimale Zeit für einen Bundestagswahlkampf. Sommer-Wahlkampf ist schöner.“ 

Witterungsverhältnisse wie bei Shakespeare

Während Spitzenpolitiker wie Lauterbach irgendwann wieder ins politische Berlin zurückdüsen, stehen die normalen Parteimitglieder oft tagein, tagaus in der Kälte. Manche klagen darüber, dass die Kabelbinder, mit denen die Wahlplakate befestigt werden, bei Kälte schneller brüchig werden.

Insgesamt ist die Kontaktaufnahme zum Wähler schwieriger, schon weil weniger Leute auf der Straße sind. Grill- und Sommerfeste fallen aus, in Bayern muss der Wahlkampf ohne Bierzelt auskommen. 

Das alles ist dem Zulauf nicht unbedingt förderlich. Bei manchen Wahlkampfveranstaltungen hätten die Beteiligten aus Shakespeares „König Lear“ zitieren können: „Wer ist da, außer schlechtem Wetter?“ 

Psychologe: Wähler sind noch im Winterschlaf 

Aus psychologischer Sicht ist der Winter nicht unbedingt Wahlkampf-geeignet. „Im Dezember verabschieden wir uns meist erst einmal in eine Art seelischen Winterschlaf“, sagt Psychologe Stephan Grünewald, Leiter des Kölner Rheingold-Instituts. „Zunächst wird man von der Weihnachts-Hektik beschlagnahmt, das Fest selbst ist dann mit einer gewissen harmonisierenden Weltabgewandtheit verbunden, und die Zeit zwischen den Jahren ist ein ausgedehntes Nirwana - eine Periode, in der man sich auf sich selbst und den engsten Familienkreis fokussiert.“ Anschließend sei man dann erst einmal mit dem (Nicht-)Einhalten guter Vorsätze beschäftigt. Erst Ende Januar öffne sich wieder ein Tor für die Aufmerksamkeit.

„Die Chance eines Wahlkampfs ist ja auch immer, dass wir durchlässig werden und uns die Argumente und Perspektive der anderen erreichen“, sagt Grünewald. Die Winter-Verfassung schaffe aber eine gewisse Undurchlässigkeit: „Wir legen uns ein dickes Fell zu und ziehen uns in unsere Höhle zurück. Das macht einen Austausch schwierig.“ 

In mehreren Corona-Studien habe das Rheingold-Institut zudem festgestellt, dass sich die gefühlte Jahreszeiten-Rhythmik seit 2020 noch verstärkt habe. Das komme dadurch, dass die Infektionszahlen während der Corona-Zeit zu Beginn des Winters immer sprunghaft angestiegen seien und es in der Folge dann zu Lockdowns und abendlichen Ausgangssperren gekommen sei. „Man wartete dann wirklich auf das Frühjahr, um aus dem Haus und aus sich selbst herauszugehen. Nun ist Corona nicht mehr so präsent, sitzt aber immer noch im unbewussten Bio-Rhythmus der Menschen fest.“

Dementsprechend hätten im Dezember und Januar viele Wahlkämpfer die Erfahrung gemacht, dass der Parteien-Wettstreit die Wähler kaltlasse. Die derzeitige Überhitzung des Wahlkampfs mit scharfen gegenseitigen Angriffen sei auch eine Gegenreaktion darauf, um die Wähler doch noch aufzurütteln. „Die Massendemonstrationen zeigen, dass das zu gelingen scheint.“

Wahlkampf im Karneval - ganz schön anstrengend

Im Rheinland haben die Parteien große Schwierigkeiten, Säle für Wahlkampfveranstaltungen zu mieten - denn fast alles ist für Karnevalssitzungen schon lange ausgebucht. 

Aber auch für die Büttenredner und Komiker ist es herausfordernd, dass wenige Tage vor Weiberfastnacht gewählt wird. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich so etwas in 33 Jahren schon mal erlebt habe“, sinniert TV-Entertainer Guido Cantz, einer der gefragtesten Redner im Kölner Karneval. „Ich muss natürlich meine Hausaufgaben machen und aktuell und spontan sein.“ 

Ein besonderes Problem ist, dass die Fernsehsitzungen zum Teil vor der Wahl aufgezeichnet, aber erst danach ausgestrahlt werden. „Ich habe schon gesagt: Ich sag' zu jedem was, dann könnt ihr euch das Passende rausschneiden“, scherzt Kabarettist Bernd Stelter. Auf jeden Fall werde er sein Programm nach der Wahl am 23. Februar noch einmal teilweise umschreiben. Im Übrigen gilt für ihn, dass Karneval im Wahlkampf auch einen großen Vorteil hat: „Wer rausgeht und mit anderen zusammen Karneval feiert, wählt vermutlich besser als derjenige, der allein zu Hause sitzt und nur in seiner eigenen Blase auf X, Tiktok und Facebook unterwegs ist.“

Der nächste Winterwahlkampf kommt bestimmt

Winterwahlkampf - vermutlich nicht zum letzten Mal. Wenn die nächste Regierung nicht wieder vorzeitig auseinanderfällt, dann wird auch in vier Jahren wieder im Winter gewählt.

Mit Mantel und Winterstiefeln: Der Bundestagswahlkampf von 1987 fand im Winter statt (Archivbild).
Mit Mantel und Winterstiefeln: Der Bundestagswahlkampf von 1987 fand im Winter statt (Archivbild).
picture alliance / dpa