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Comeback von Tokio Hotel Comeback von Tokio Hotel: Nach dem Monsun - Alles nur geklaut?

Von Steffen Könau 17.09.2014, 09:08
Georg Moritz Hagen Listing (l-r), Tom Kaulitz, Bill Kaulitz und Gustav Klaus Wolfgang Schäfer von der deutschen Band Tokio Hotel (undatierte Aufnahme).
Georg Moritz Hagen Listing (l-r), Tom Kaulitz, Bill Kaulitz und Gustav Klaus Wolfgang Schäfer von der deutschen Band Tokio Hotel (undatierte Aufnahme). dpa Lizenz

Halle (Saale) - Ein Bündel Ketten um den Hals, Ringe in Lippen und Nase, das Haar strohblond gefärbt und vor dem Mund ein Mikrofon, so endet die lange Flucht des Bill Kaulitz. Eine Flucht vor dem frühen Ruhm, eine Flucht vor dem Raub der Kindheit, eine Flucht, die von Magdeburg über Hamburg nach Los Angeles führte.

Hier steht der 25-Jährige nun in einem abgedunkelten Studio, sein Bruder Tom sitzt am Flügel. Beide spielen „Run Run Run“, den ersten Song aus einem neuen Album ihrer Band Tokio Hotel, das am 3. Oktober erscheinen soll.

Fünf Jahre Stille enden

Es wird an diesem Tag fünf Jahre her sein, dass „Humanoid“ erschien, die dritte CD des Quartetts, zu dem neben den Kaulitz-Brüdern der aus Halle stammende Bassist Georg Listing und Drummer Gustav Schäfer gehören.

„Kings of Suburbia“ wird das neue Werk heißen und nach den ersten Höreindrücken könnte die erfolgreichste deutsche Teenieband es geschafft haben, aus dem tiefen Keller einer verlorenen Kindheit zu klettern und sich neu zu erschaffen.

Denn „Run Run Run“ hat nichts mehr von der himmelsstürmenden Juvenilität, die das Schaffen der Gruppe auf den ersten beiden Werke „Schrei“ und „Zimmer 483“ prägte. Damals schneiderte Produzent Patrick Benzner den vier Teenagern aus dem Osten Lieder zwischen Weltschmerz und Aufbegehren. „Ich muss durch den Monsun, hinter die Welt“, sang Bill Kaulitz, „ans Ende der Zeit, bis kein Regen mehr fällt“.

Der Sänger vor allem, ein schmaler 15-Jähriger, der schon mit zwölf bei der Casting-Show „Star Search“ gestartet war, lebte Gleichaltrigen die Möglichkeit vor, ein Star zu sein. Zeigen Bilder aus seiner Zeit bei der Schülerband Devilish ihn noch als Halbwüchsigen, der schüchtern auf einer viel zu großen Bühne steht und ums Überleben singt, hat ihn das Training im Boot-Camp von Patrick Benzner in einen Profi verwandelt. Exaltiert gekleidet wie einst David Bowie, vom Kreischen tausender Mädchen umtost und die kindlichen Züge hinter Make Up versteckt, gibt der gebürtige Leipziger Medien und Massen eine Projektionsfläche für Liebe und Hass gleichermaßen.

Der Erfolg ist größer als selbst die Produzenten erhofft haben. Ein Fieber fällt über das Land, ein Fieber, das eine ganze Generation packt. Bill Kaulitz, der bis dahin nur davon geträumt hat, „Musik zu machen und vielleicht mal davon leben zu können“, ist plötzlich kein Teenager mehr, sondern der Mann, der die Plattenindustrie retten muss. 1,5 Millionen Exemplare verkauft die Band aus dem 850-Seelen-Örtchen Loitsche (Bördekreis) von ihrem Debütalbum - das ist ein Prozent aller CDs, die in jenem Jahr in Deutschland über die Ladentheke gehen.

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Aber das ist auch einmalig. Auf die drei Top-Hits des Debüts folgt nur noch einer aus Album zwei. Der Nachfolger „Humanoid“ liefert dann gar keinen mehr, er hält sich auch nur noch 17 Wochen in den Charts statt 65 wie noch „Schrei“.

Aus den Lobeshymnen werden nun Verrisse und die Konzerthallen füllen sich auch nicht mehr von allein. Nach drei Jahren im Menschenkäfig der öffentlichen Aufmerksamkeit kündigten die Hotelchefs Bill und Tom eine Pause an. In Los Angeles werde man an neuen Stücken arbeiten, heißt es.

Eine Ankündigung, die auf die Fans bald wirkt wie ein Witz. Zwar taucht Bill Kaulitz als Sänger in einem Stück des Elektro-Quartetts Far East Movement auf und später spult der verschwundene Mädchenschwarm auch eine Rolle als Juror bei „Deutschland sucht den Superstar“ auftoupiert, aber gutgelaunt ab.

Nur Musik ist nicht zu hören. Bill Kaulitz begründet das heute mit der Notwendigkeit eines radikalen Neubeginns. „Als wir nach Los Angeles kamen, konnte ich den Namen Tokio Hotel nicht mehr hören.“ Bruder Tom sagt, er sei nicht mal sicher gewesen, ob er all das noch wolle. „Der hohe Preis, den wir für den Erfolg zahlen mussten, der ganze Wahnsinn, so hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt.“

Es ist eine Geschichte von Verlieren und Wiederfinden, wie sie Künstler häufiger erzählen. In Los Angeles habe man die Liebe zur Musik wiederentdeckt, beschreibt Tom Kaulitz. Dabei hätten „endlose Eskapaden, wilde Nächte und verkaterte Morgen“ geholfen.

Eine Szenerie, von der auch dieses „Run Run Run“ erzählt, das die Band bei Youtube vorstellte, wo sie seit Wochen kleine Filmchen aus ihrem Alltag zeigen. Fotoshooting, Studio. Bill liegt auf dem Sofa und sagt: „In der Zeitung steht, Bill und Tom sehen nicht mehr aus wie Tokio Hotel“. Alle lachen.

Inspiriert von Jazzband

Aber sie klingen wirklich nicht mehr so. „Run Run Run“ zumindest orientiert sich eher an der britischen Band Radiohead. Viel Moll, viel Kopfgesang. Und die Harmonien ähneln verblüffend dem Stück „Murmuration“ des britischen Jazz-Trios GoGo Penguin.

„True Art Pop“ nennt Bill Kaulitz den neuen, erwachsenen Stil seiner Band. Im Video qualmen die Kippen, Bärte werden gezeigt und Bill Kaulitz lispelt liebenswert. Zum Leidwesen vieler Fans wird im Tokio Hotel inzwischen Englisch gesungen. Nicht Bitterfeld, sondern die Welt ist das Feld.

700?000 Mal wurde das Video in den letzten fünf Tagen angeschaut, 30?000 Fans haben es mit gut bewertet und rund 50 mehr oder weniger gelungene Coverversionen der Klaviernummer hochgeladen. Am Freitag werden Tokio Hotel das zweite Stück aus ihrem neuen Album bei Youtube vorstellen. Ob es geklappt hat mit dem Comeback, wissen sie dann in zwei Wochen, wenn die CD in den Handel kommt.