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Comeback von Sandow Comeback von Sandow: DDR-Band legt wuchtiges Album vor

Von Mathias Schulze 05.09.2017, 09:45
Sie sind Sandow: Kai-Uwe Kohlschmidt (vorn) sowie Tilman Berg, Tilman Fürstenau und Chris Hinze (v.l.)
Sie sind Sandow: Kai-Uwe Kohlschmidt (vorn) sowie Tilman Berg, Tilman Fürstenau und Chris Hinze (v.l.) Marek Cucera

halle - Letzte Woche im Leipziger Werk 2: Roter und grüner Nebel, der Wahnsinn flackert mit dem Kichern eines Kim Jong-Un von der Videoleinwand. Kai-Uwe Kohlschmidt, Jahrgang 1968 und seit mehr als drei Jahrzehnten Sänger der Cottbuser Avantgarde-Band Sandow, steht hochaufgeschossen mächtig am Mikro.

Nach mehr als zehn Jahren gibt es wieder ein Sandow-Album, ermöglicht durch einen finanziellen Vertrauensvorschuss der Fans. Herausgekommen ist ein großer wuchtiger Wurf, herausgekommen ist „Entfernte Welten“, erschienen beim „Major Label“. Während der erstmaligen Live-Präsentation trotzt Kohlschmidts Schädel anarchisch ins Rund, die Augen weit aufgerissen, die Hände im obsessiven Spiel.

Es ist, als trägt Kohlschmidt den Irrsinn der Welt unverdaut im Magen, es ist, als schleudere er ihn nun mit letztem Widerstand dem Publikum entgegen. Im schärfsten Kontrast zu all dem Schlagzeug-, Gitarren- und Klanggewitter stehen Klangbilder von sonnendurchfluteten Wäldern, ein zarter Frauenchor begleitet, die Formenvielfalt überwältigt.

Mitten im Wahlkampf feuert Sandow - Tilman Berg, Tilman Fürstenau und Chris Hinze komplettieren das Künstlerkollektiv - aus jener Oppositionsrichtung, die die Band schon vor 1989 einnahm. Das nennt man wohl Rückgrat, Zeitzeugen dürfte noch der ironische DDR-Abgesang „Born in the GDR“ (1988) im Ohr liegen.

„Im Grunde ist das neue Album die große Reise eines Flüchtenden, den die Realität an einen Stein gefesselt hat. Es ist der Versuch einer Befreiung von der kranken westlichen Zivilisation durch Wildnis, durch Einsamkeit“, sagt Kohlschmidt. Seine Expeditionen, beispielsweise nach Papua Neuguinea oder Venezuela, prägen die Texte, die um ein Hauptmotiv kreisen: eine neue Weltordnung. Um diese Gedanken zu beleben, greift Sandow zu allen verfügbaren Mittel. „Entfernte Welten“ vereint New Wave, Engelsgeflüster und krachenden Experimentalrock, es gibt mystisch-surreale Meditationen und ein Spiel mit philosophischen Versatzstücken, die an die antibürgerliche Tradition eines Baudelaires oder an Nietzsches Zarathustra erinnern. „Entfernte Welten“ wirkt wie ein vertonter Blockbuster, dessen Exotik alltägliche Abstumpfungsprozesse aufbrechen will.

Kohlschmidts Stimme krallt sich verführerisch in die tiefsten Schichten, das Album will vom ersten revolutionären bis zum letzten sanft-wahrhaftigen Ton aufmerksam genossen werden. Utopien sollen auferstehen, Fragen statt Antworten. Daher versucht die Platte innere Formatierungen zu knacken. Willkommen im seelischen Weltraum, willkommen in magisch-humanen Welten. Hier ein Cello, dort ein gut abgeschmeckter Erweckungspathos. Gegenwartsdiagnosen der Marke Kohlschmidt gefällig?

„Wir leben in einem utopielosem Leistungszwangsraum. Jeder ist Sklavenhalter und Versklavter in Personalunion. Wir beuten uns selbst aus und multinationale Suprastrukturen füttern uns mit Brot und Spielen, Internet und Castingshow.“ Also muss der Künstler seinen Gedanken alle Mutterliebe mitgeben, die neue Platte führt fort von eingeschliffenen Realitätssinnen, fort von Variationen des Ewig-Gleichen, die den Musikmarkt fluten. Im Song „New World Order“ heißt es: „Wir gehen nicht mehr krumm seit Neunzehnachtundsechzig. Wir waren viel zu dumm. Neunundachtzig war nix. Ihr dümpelt seitdem rum in Netzen und Kanälen.“ 1989 war nichts?

Kohlschmidt erklärt es so: „Wenn mein Herz an '89 denkt, glaubt es an eine Chance für eine andere Idee. Doch wir sind übergelaufen wie blinde Idioten. Mein Verstand sagt mir natürlich, dass wir für eine andere Idee nicht den Hauch einer Chance hatten. Wir hatten ja noch nicht einmal eine andere Idee. Die Treuhand schon.“

Aber holt man sich mit umstürzenden Phantasien nicht unliebsames Publikum? Kohlschmidt formuliert seinen Glauben, das einschlägige Ecken zu dumm sind, seine Kunst zu dechiffrieren, so: „Ein poetischer Text ist eine Entscheidung, nun mal nicht journalistisch oder informell zu sein, sondern eben poetisch. Ich erschaffe da Labyrinthe, die ich selbst gern betrete. Links und rechts sind für mich keine denkbaren Kategorien.“

Fühlbar ist die Kunst. Und die Sehnsucht. „Entfernte Welten“ pflanzt sie großartig untilgbar ins Herz.

Der nächste Auftritt von Sandow findet am 20. Oktober um 20 Uhr im M.A.U.-Club Rostock statt. (mz)