Coldplay in Leipzig Coldplay in Leipzig: Spektakulär, perfekt und seicht zugleich

Leipzig - Spektakulär, perfekt und seicht zugleich. Willkommen beim Coldplay-Konzert in der mit 48.000 Fans gefüllten Red Bull-Arena Leipzig, willkommen bei einem multimedialen Ereignis der besonderen Art.
„A Head Full of Dreams“-Tour: Coldplay rockt Leipzig
Der Himmel ist blau, alles beginnt unter zarten Schleierwolken kurz vor neun am Mittwochabend.
Das Thermometer zeigt gefühlte 22 Grad, die Tagessonnenstrahlen kitzeln noch die Haut, am Piano hängen hippie-bunte Wollfäden. Nach Puccinis Arie „O mio babbino caro“ erinnern eingespielte Zitate an Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“: „Ihr alle – nicht ein einzelner Mann oder eine Gruppe – könnt dieses Leben zu einem wundervollen Abenteuer machen.“
Sofort gibt es eine Dosis Weltfrieden, das wunderschöne „Yellow“ knipst gleich zu Beginn ein Wohlfühllächeln an.
Frontsänger Chris Martin, Gitarrist Jonny Buckland, Schlagzeuger Will Champion und Keyboarder Guy Berryman katapultieren mit enormer Geschwindigkeit freudige Erregung ins weite Rund. Es riecht anfangs nach einem Abend, an dem jeder seinen Grund findet, es schmeckt nach einer Nacht, in der man hoffnungsvoll Kinder zeugen will.
Das honig-melodische „The Scientist“ formt den ersten Massenchor: „Nobody said, it was easy“. Ja, keiner hat gesagt, dass es einfach war. Die Hände gehen nach oben, Euphoriewellen. Drei riesige Videoleinwände huldigen den Farben, gepredigt wird Vielfalt. So verheißungsvoll und zuckersüß kann britischer Pop sein, der Kollektivrausch wird die kommenden zwei Stunden anhalten.
Coldplay macht die Red Bull-Arena Leipzig zum Glühwürmchenvergnügungspark
Die „A Head Full of Dreams“-Tour vereint die Hits der 20-jährigen Bandgeschichte. Da gibt es Stadienhymnen, leise Akustikgitarrenlauscher, rundgewetzte Rockreißer, Techno-Einflüsse, Discopop, Klavierstücke und solche hinreißenden Nummern wie „Clocks“, die ihren ewigen Platz im Pop-Olymp sicher haben.
Kurz vor zehn, die Nacht breitet ihre dunkle Decke über den Metropolen-Smog Leipzigs, wird aus einem Konzert eine Reizüberflutung sondergleichen. Die Armbänder, am Eingang verteilt, beginnen, meist hoch über den Köpfen der tanzenden Fans, ein gigantisches Glühwürmchenspiel. Allüberall Lichter und Konfettiregen. Es wimmelt, die Farben wechseln, der Blick verschwimmt. Der Versuch, ihn auf einen bestimmten Punkt zu fokussieren, scheitert. Willkommen im multimedialen Sinnesrausch.
Laserstrahlen begleiten den auf einem Laufsteg bis in die Stadionmitte sprintenden Sänger Chris Martin, dem nun eine Deutschlandfahne in der Hose klemmt. Zum Song „Hymn for the weekend“, zu finden auf dem aktuellen Album „A Head Full of Dreams“, gibt es hypnotisierende Farbspiele auf den Leinwänden, Martin rennt den Laufsteg auf und ab, pünktlich zum Refrain des Liedes landet er mit einem gewaltigem Sprung, den selbst der größte Sitzriese innerlich mitgeht, wieder auf der Hauptbühne: „So high, so high“. Das gelb-rote Glühwürmchenmeer wogt und wogt, auf der Leinwand tanzen zu „Adventure of the livetime“ kunterbunte Affen die wildesten Choreografien.
Noch viel farbigere Luftballons schweben über den klatschenden Armleuchtern. Ein Narr, wer dieses Spektakel Konzert nennt. Das ist ein Vergnügungspark, in dem Liebessehnsüchte, Herz – und Weltschmerz dynamisch-sportlich zelebriert werden.
Chris Martin springt hier hin und es zischt ein Feuerwerk, Chris Martin springt dort hin und es schießen Luftschlangen in die Luft. Was für eine perfekt durchgeplante Show! Selbst so ein abgehanger Ohrwurm wie „Don't panic“ vom ersten und guten Album „Parachutes“ kann die dicke Schicht aus der mittlerweile vorherrschenden Live-Style-Makellosigkeit nicht mehr durchbrechen.
Eine kosmopolitisch-warme Atmosphäre wird zur endgeilen Party. Das Stadion tobt, auf den Videoleinwände zischen die Sternschnuppen kreuz und quer. Gezeigt werden fliegende Schildkröten in der U-Bahn, verängstigte Kriegskinder, Mauern und überdimensionale Plastikbecher, die Meere und Wälder verunreinigen.
Und noch einmal knallt schwarz-rot-goldenes Konfetti in die durchgeschwitzten Fans. Coldplay will alles, aber auch alles, richtig machen. Diese Perfektion wird zum Fluch, das Event bewegt nicht die tieferen Seelenschichten. Ganz am Ende landet die besagte Deutschlandfahne neben dem Schriftzug „Love“. Draußen auf der Festwiese, die mit Zaungästen überfüllt ist, liegen Informationsblätter von der internationalen Entwicklungsorganisation „Oxfam“. Auf der Titelseite: Coldplay. Innendrin werden der Familiennachzug für Geflüchtete und mehr Mittel für Entwicklung und Nothilfe in armen Ländern gefordert. Einen Kopf voller Träume? Ja, gewiss. Nur braucht es dafür diesen seichten Massenrausch? (mz)