Christoph Schlingensief Christoph Schlingensief: Schmerz sichtbar machen
HALLE/MZ. - So steht der Künstler aus dem rheinischen Oberhausen auf der Bühne des halleschen Steintor-Varietés und reißt die Arme auseinander: "Dass so viele kommen, damit hätte ich nicht gerechnet!" Das Publikum auch nicht. Die wie Kongressgäste aufgereihten Besucher mustern sich in aufgekratzter Erwartung.
42 Jahre alt ist Christoph Schlingensief an diesem Septemberabend im Jahr 2002 und ausgerechnet Halle der Auftaktort seiner Deutschlandtour "Aktion 18 - Tötet Politik!". Man muss den Slogan heute erklären: Die 18 ist in Prozenten das Bundestagswahlziel der Möllemann-FDP, die Schlingensief als asoziale Selbstbereicherungspartei zu entlarven sucht. Gegen die Realpolitik in Gänsefüßchen will er seine Wirklichkeitspolitik der echten Befunde und Gefühle setzen. Gegen Machtmissbrauch und Volksbetrug, gegen Kompetenzteams und Hochstapelei stellt er: die "Politik des Schmerzes".
Denn den Schmerz sichtbar zu machen, darum geht es Schlingensief als Künstler und Öffentlichkeitsarbeiter gleichermaßen, seit er 1987 den Job als Aufnahmeleiter der ARD-Familienserie "Lindenstraße" aufgegeben hatte. Theater der Grausamkeit heißt das von Antonin Artaud ausgeliehene Konzept, das Schlingensief für die bundesdeutschen Verhältnisse fortentwickelt. Schmerz sichtbar machen, um Heilung zu ermöglichen. Heilung von Armut und Arbeitslosigkeit, von Anmaßung, Dummheit, Verrohung. Weil alles das ungeschützt öffentlich zu zeigen als Provokation gilt, wird Schlingensief schnell als Provokateur geführt.
Warum startete er 2002 seine Tour von Halle aus? "Um den Berliner Zentralismus zu unterwandern", sagte Schlingensief der MZ. "Halle ist mir wichtiger als Berlin." Worum es ihm gehe: ein "Theater der Handgreiflichkeit". Um "mit dem anderen sich selbst und dessen Schmerz zu spüren, das ist das Ziel meines politischen Theaters."
Es war dann aber doch eher das, was man einen durchwachsenen Abend nennt. In rasantem Wechsel: Videobilder der einstürzenden Twin-Towers, Voodoo-Reklame und FDP-Attacken. Wenn ein Schmerz sichtbar wurde, dann weniger der einer Gesellschaft, als der eines einzelnen Zeitgenossen. Ratlosigkeit im Saal. Vor dessen Türen verteilte die FDP lächelnd ihre Werbezettel. Vielleicht war das ganz und gar westdeutsche Erregungs- und Protestkonzept nicht auf den Osten zu übertragen.
Denn dem Westen war Christoph Schlingensief mit Haut und Haar verbunden: 1960 im Ruhrgebiet als einziges Kind eines Apothekers und einer Kinderkrankenschwester geboren. "Extrem kleinbürgerliches Elternhaus", aus dem heraus er 1972 das Jugendfilmteam Oberhausen gründet. Nach dem Abitur vergeblicher Anlauf zum Filmstudium, dann sieben Semester Germanistik. "Grausame Erfahrungen" bei der "Lindenstraße", beglückende Erlebnisse als Regisseur. Seine Filme tragen wuchtige Titel wie "Das deutsche Kettensägenmassaker" oder "100 Jahre Adolf Hitler". Sein Ziel: kein pädagogisch abstraktes, sondern ein handgreiflich passioniertes politisches Erweckungstheater. Großartig ist die Aktion am Wolfgangssee im Jahr 2000: 600 plantschende Arbeitslose sollen den von Helmut Kohl geliebten Badesee fluten.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die aktionshungrige Event-Gesellschaft den Künstler Schlingensief als liebenswerten Clown umarmte. Aber komisch war dieser Schlingensief nie - sondern sehr ernsthaft, sehr engagiert. Und dabei immer: deutsch. Das heißt: distanzlos, erregungsbereit, gern sentimental. Immer wollte er irgendetwas zeigen. Aber Zeigen ist nicht zwangsläufig ein Sichtbarmachen, das man Analysieren nennt.
Auch im Persönlichen: Nachdem 2008 bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert worden war, veröffentlichte Schlingensief seine Erfahrungen mit dieser Krankheit in einem Tagebuch. Auch hier schoben sich vor allem Eindrücke und Affekte nach vorn. Dabei schreckte Schlingensief nicht vor einer kryptischen Sinngebung der Krebserkrankung zurück, vor der die Amerikanerin Susan Sontag in ihrem Buch "Krankheit als Metapher" gewarnt hatte.
Fortan war Schlingensief ein öffentlicher Kranker. Denn nur wer seinen Schmerz zeige, könne diesen heilen, meinte er. Dabei riss in den Erholungsphasen das Engagement nicht ab - zuletzt für ein Operndorf in Afrika. Bloß keinen Stillstand! Keinen Rückzug! Auf die Frage, ob Kunst die Welt verändern könne, sagte Schlingensief in Halle: "Nein. Die größte Kunst ist und bleibt es, auf der Welt zu sein." Diese Kunst beherrschte dieser grundsympathische westdeutsche Schmerzensmann öffentlich wie kein Zweiter. Am Sonnabend ist Christoph Schlingensief im Alter von 49 Jahren gestorben.