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Christoph Hein Christoph Hein: Schlesischer Krieg in Sachsen

Von Christian Eger 25.01.2004, 16:44

Halle/MZ. - Der Titel des neuen Hein-Romans ist von der Art, wie er für gewöhnlich Lyrik-Bänden verpasst wird: anspruchsvoll im Auftritt, knackig im Klang, in der Sache aber bodenlos und vielsinnig ausfransend an den Rändern. "Landnahme": Was soll das bedeuten? Alles hinterm Doppelpunkt.

Die "Inbetriebnahme eines Landes durch Besiedlung und Bodenverteilung": So sagt es der Brockhaus. Bei Hein meint es mehr: Das, was sich einer nimmt; das, was einem genommen wird. Als Scholle der Boden, als Existenz der Ort zum Leben, wozu ja mehr gehört als eine Hausnummer. Am Grund der Frage pocht auch das: Das Prinzip des privaten Eigentums, das auf dem Nehmen beruht, und dessen letzter Pfand das ist, woraus es sich einst entwickelte: Land als Währung.

Ein Romantitel also, der Thema und Handlung wie im Zeitraffer vorwegnimmt. So ein Titel setzt eine Höhe, von der ein Werk sehr tief stürzen kann. Das ist hier buchstäblich nicht der Fall. So vielstimmig und souverän war Christoph Hein seit seiner 97er Erinnerungsprosa "Von allem Anfang an" nicht mehr zu hören. "Landnahme" - dieser Roman ist ein Kunstwerk.

Erzählt wird das Leben des Bernhard Haber, 1940 geboren in Breslau, der 1950 von Schlesien aus in Guldenberg anlandet, einem Städtchen, das Hein an der Mulde bei Eilenburg verortet, nordwestliches Sachsen. Haber, ein Vertriebener. Auf DDR-Deutsch: Umsiedler. Im Klartext: Einer, auf den niemand gewartet hat; der ärgert, was er auch spüren soll. Spricht anders, lebt anders, hat anderes gesehen. Haber ist "der Polacke", Bernhards Vater als einarmiger Tischler öffentliche Spottfigur. "Der fehlende Arm war der Obelisk, den Guldenberg für den verlorenen Krieg und die sieben toten der Soldaten der Stadt nicht errichtet hatte."

Eine Dürrenmattsche Eröffnung: Das Verdrängte kehrt zurück an seinen Ort, der Biedermann entpuppt sich als Brandtstifter. Vater Habers erste, notdürftig eingerichtete Werkstatt geht in Flammen auf. Wer war's? Guldenberg, sagt er. Bernhards Hund Tinz: mit einer Drahtschlinge erwürgt. Gegen Ende des Romans stirbt der alte Haber: Mord, behauptet sein Sohn - er soll recht behalten am Ende.

Das Verhältnis, das der maulfaule, kopfträge, aber zupackende Bernhard Haber zu seiner Umwelt hat, ist das des Hasses. Hass hat Energie, die sich in Bernhards Fall in Guldenberger Honoratiorenwohlstand vergolden soll. Wie das geschieht, wird nicht linear erzählt (so wie ein Leben ja mehr voranschaukelt als -zielt), sondern Bernhards Roman setzt sich aus vier Lebensgeschichten zusammen, in denen er wie beiläufig eine Rolle spielt: als Schüler, erste Liebe, Geschäftspartner. Es sprechen zwei Frauen, zwei Männer. Haber ist der kleinste gemeinsame Nenner.

Es sind erstaunliche, sich in ihrem Überraschungs- und Unterhaltungs-Potenzial jeweils steigernde Geschichten, die Christoph Hein mit szenischem Witz und Schärfe in Dingen präsentiert. Viel soziales und landschaftliches Kolorit: Liebe in den Zeiten der Kollektivierung, der 17. Juni, die deutsche Teilung, allein fünf Seiten über die Kartoffelkäfer-Plage in den 50ern, ein Ballon-Flug, und einiges an geglücktem und verstolperten Sex. Und Bernhard? Auch wenn es nicht ins Auge fällt: Er profitiert von den wie herbeigesehnten Krisen jener Welt, die er verachtet. Als auftrumpfender Kollektivierungs-Agitator, als Fluchthelfer und Wende-Gewinnler. Er hat einige Rechnungen zu begleichen. Die Rache ist sein, und, sagt er, ein großer Spaß.

Die DDR bleibt in den abgebildeten fünfzig Jahren eine Randerscheinung. Nicht einmal ihr Name fällt. Der 17. Juni ist kenntlich, aber nicht unter diesem Titel. Alle inhaltlich politischen Setzungen sind abwesend: Es gibt die eine Partei und die anderen, aber nur als Machtgruppen im Guldenberg-Spiel. Hein zeigt eine regionale Realität, keine höhere Wirklichkeit. Keine Politik! Das Ideelle heruntergebrochen, heißt vor Ort: Sein durch Haben und Haben lassen.

Hein liefert, was heute selten ist, einen Gesellschaftsroman. Ein Buch darüber, was eine labile Gesellschaft zusammenhält: Argwohn nach außen und innen, Rechnungen, die nicht offen bleiben dürfen, Integration im Ausschluss-Prinzip. Der getötete Vater bleibt draußen. Bernhard verzichtet auf die Anzeige der Mörder: Das, meint er, sei sein Preis für die Zukunft. Ein Buch über die Schlacht nach dem Krieg. Das hat mit DDR sehr viel zu tun - mit der Gegenwart sowieso. Wann erhält Hein den Büchner-Preis?

Christoph Hein: "Landnahme", Suhrkamp, 360 S., 19,90 Euro.