Christliche Kunst im 20. Jahrhundert Christliche Kunst im 20. Jahrhundert: Zweifel trifft Sehnsucht
Wittenberg/MZ. - Ihren Weg in das Neue Testament fand die Legende nicht, für die bildende Kunst aber ist ihr Reiz ungebrochen: Das Tuch, mit dem eine barmherzige Frau dem Gottessohn bei seiner Kreuztragung die Stirn getrocknet haben soll, beschäftigte im 20. Jahrhundert Maler und Grafiker wie Bernard Buffet, Georges Rouault oder Georg Baselitz. Dies freilich ist kein Wunder: Denn jenes Antlitz mit der Dornenkrone, das sich angeblich im Schweißtuch der Heiligen Veronika abzeichnete, verankert die Frage nach dem Recht auf Abbildung des Göttlichen direkt in der Passion - und antwortet positiv.
Alle drei Künstler finden sich als Beispiele für den modernen Umgang mit christlicher Überlieferung nun auch im Bestand einer Stiftung, die einen willkommenen Kontrapunkt zur Pflege des protestantischen Erbes in Wittenberg setzt. Das baden-württembergische Fabrikanten-Ehepaar Gisela und Ulrich Scheufelen hat seine Kollektion von christlicher Kunst des 20. Jahrhunderts auf Dauer in der Lutherstadt angesiedelt. Im Alten Rathaus wurde mit Hilfe der Stadt und des ortsansässigen Kunstvereins ein so zentraler wie würdiger Ausstellungs-Platz gefunden.
Die erste Auswahl aus 280 Grafiken, zu denen neben zahlreichen Einzelblättern auch Mappenwerke wie Marc Chagalls "Bible", Max Pechsteins "Vater Unser" oder HAP Grieshabers "Polnischer Kreuzweg" zählen, lässt keinen Zweifel am weit gespannten Interesse der Stifter. Von einer frühen, tief in der Bildsprache des 19. Jahrhunderts verhafteten Zeichnung des Lesser Ury reicht das Spektrum bis zu einer Foto-Übermalung von Arnulf Rainer oder eben zum "Schweißtuch" des Georg Baselitz - wobei sich die härtesten ästhetischen Kontraste nicht an den Eckdaten der Zeitleiste festmachen lassen.
So wirken die Arbeiten von George Grosz, der das Christus-Kreuz unmittelbar auf den Leichenbergen des Ersten Weltkrieges errichtet, weit provozierender als etwa Grieshabers Holzschnitt-Kreuzweg, mit dem der Künstler 1965 immerhin die Herausgabe eines Totenbuches für das Konzentrationslager Neuengamme unterstützte. Die Distanz zu jenen zeitgeschichtlichen Ereignissen, die in der christlichen Tradition gespiegelt werden, erscheint also als Maßstab für schreiende Anklage oder stumme Trauer. Nur selten aber finden sich abgeklärte Reflexionen, in denen biblische Geschichten als Zeugnisse ohne jeden Bezug zur Gegenwart erscheinen.
Möglicherweise ist diese Form der Auseinandersetzung auch eine Folge des allgemeinen Glaubensverlustes, der in ihrer Wirkung bis dato unantastbare Motive im 20. Jahrhundert zu neuer Deutung freigab. Neben allem Zweifel an der guten Nachricht finden sich in der Wittenberger Schau daher auch Zeugnisse für die Sehnsucht nach naivem Einverständnis mit einem Erlösungs-Versprechen. Wo ihm freilich alle aktuelle Welterfahrung zu widersprechen scheint, verdrängt der Schmerzensmann zwangsläufig das Kind in der Krippe und wird Karfreitag zum zentraleren Datum als die Christnacht.
Mit dieser Einsicht begründet die Sammlung Scheufelen allerdings auch eine Perspektive für ihre eigene Zukunft: Aus den Zinsen eines erheblichen Geldbetrages, der die Stiftung begleitet, soll neben der laufenden Betreuung der Ausstellung auch ein Wettbewerb für zeitgenössische christliche Kunst ausgelobt werden. In zwei Jahren dürften erste Ergebnisse vorliegen.
Ausstellung im Alten Rathaus: Dienstag-Sonntag, 10-17 Uhr