1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Christa Wolf: Christa Wolf: Das eigene Leben finden

Christa Wolf Christa Wolf: Das eigene Leben finden

Von Christian Eger 01.12.2011, 13:15

Halle (Saale)/MZ. - "Wer aber waren ,wir’?" Eine Frage aus Christa Wolfs letztem, im Sommer 2010 veröffentlichten Roman "Stadt der Engel". Eine typische Christa-Wolf-Frage: Denn die Frage nach dem Wir war bei ihr immer die Frage nach dem Ich, das sich ja erst in der Differenz zur Mehrheit begreift.

An der Wechselspannung zwischen Wir und Ich, zwischen Gesellschaft und Subjekt, hat sich die deutschlandweit populärste Autorin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Leben lang abgearbeitet. Auch deshalb, weil sie als ein Kind des Jahrgangs 1929 ins Dritte Reich hineinwachsen musste, um dann in der frühen DDR ihre prägenden Jahre zu erleben. Was zunächst hieß, von einem Kollektivismus in den nächsten zu wechseln, ohne eine eigene Wahl zu haben.

Aber eigene Fragen hatte sie. Und eigene Ansichten und Haltungen am Ende, die den Ort, an dem sie lebte, nicht zu einem zufälligen, sondern zu einem eigenen machen sollten. Von dieser Richtung her gedacht, ist auch zu verstehen, dass Christa Wolf die DDR, die ja ein Staat war, stets als ihr oder unser "Land" bezeichnete. Als etwas, das Heimatqualitäten für sie hatte, etwas, das nicht abstrakt war.

Man muss das vorab erwähnen, denn die Frage nach dem Ich bildet die Klammer dieses in gesellschaftlicher und ästhetischer Hinsicht einzigartigen Werkes der Autorin, die zur zweiten Generation der DDR-Sozialisten unter den Schriftstellern gehörte, die die Generation nach Brecht und Seghers war.

Diese Klammer vereint die Bücher von dem unter anderem in Halle spielenden Roman "Der geteilte Himmel" (1963) an über "Nachdenken über Christa T." (1968), "Kindheitsmuster" (1976) und "Kein Ort. Nirgends" (1979) bis eben "Stadt der Engel", das insofern ein typisches Wolf-Buch ist als es kein typischer Roman war, sondern ein Journal der grundstürzenden Selbstbefragung. Eines, dem man auch das Johannes R. Becher-Motto hätte voranstellen können, das bereits das "Christa T."-Buch der 39-Jährigen eröffnet hatte: "Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?"

Christa Wolf selbst kam aus kleinbürgerlich-proletarischem Milieu: Als Tochter eines Lebensmittelhändlers und späteren NSDAP-Mitläufers wurde sie im neumärkischen Landsberg, heute Gorzów, geboren. 1948 trat die vormalige BDM-Führerin-Anwärterin in die FDJ, im Jahr darauf in die SED ein. Marxismus und SED waren für sie "genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland geschehen war". Germanistikstudium in Jena und Leipzig, Arbeit im Deutschen Schriftstellerverband, Lektorentätigkeiten in Berlin und Halle. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Gerhard Wolf, lebte Christa Wolf von 1959 bis 1962 im Ortsteil Ammendorf. Keine einfachen Jahre: Es war Halle - und das Vorgängerblatt dieser Zeitung - von dem aus 1963 die Kampagne gegen den Roman "Der geteilte Himmel" eröffnet wurde.

1961 debütierte Christa Wolf mit der "Moskauer Novelle", die sie als vorliterarisch nicht in ihre Werkausgabe aufnahm, die 13 Bände zählt. Gesellschaftlich und literarisch fand sie in Anna Seghers ihr Vorbild. Als SED-loyale Dissidentin ging Wolf fortan ihren tapfer-hemmungsvollen Weg. "Alternativlos", sagte sie, die sich seit Ende der 60er Jahre im Osten nicht mehr wirklich heimisch fühlte. Im Juli 1989 verließ sie die SED. Aber immer begriff sich Christa Wolf als eine sozialistische, ausdrücklich nicht als bürgerliche Autorin. Auf der Berliner Massendemo am 4. November 1989 verkündete sie: "Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!" Anschließend erlitt sie einen Schwächeanfall und musste vom Platz weg ins Krankenhaus gebracht werden.

Seit Ende der 50er Jahre war Christa Wolf als Autorin eine öffentliche Person. Eine Rolle, für die sie seelisch und körperlich nicht wirklich hinreichend ausgestattet war. Aber Wolf suchte stets die höchste Herausforderung - auch literarisch. "Eine Art Mit-Schrift wäre mein Schreibideal", sagte Wolf 1994. Eine Literatur, die "das Subjektivste und das Objektivste" so "unauflösbar" verschränkte "wie im Leben". Eine solche Poetik verlangt den ganzen Einsatz, den die Mutter von zwei Töchtern bis zur Überforderung leistete. Die aufklärerisch-protestantische Idee vom Autor als Pädagogen und Seelsorger wirkte da immer mit hinein.

Erfahrung und Subjektivität: Um diese Begriffe kreiste die Literatur Christa Wolfs. Und weil man die schärfsten Erfahrungen in Krisen macht, lief Wolf bei der Schilderung von Krisen auch stets zu ihrer höchsten literarischen Form auf. "Nachdenken über Christa T.": die Krise einer jungen krebskranken Frau. "Störfall": die Bedrohung durch eine außer Kontrolle geratene Wissenschaft und Technologie. "Kassandra": die Außenseiterin in einem kriegführenden Männerstaat. Stets schrieb Wolf dagegen an, dass ein Mensch zum Objekt gemacht werden kann.

Auch deshalb war es falsch, Christa Wolf nach 1989 als "Staatskünstlerin" vorzuführen. Sie war eine Gesellschaftsschriftstellerin. Und mehr als von einer "Gesinnungsästhetik" müsste bei ihr von einer Besinnungs-, besser Selbstbesinnungsästhetik die Rede sein. Von einer Literatur, die den Leser in seiner je eigenen Individualität bestärken will. Erbauung hatte sie selbst bis nahezu zuletzt nötig. 1993 war ihre Stasi-Zuarbeit von 1959 bis 1962 öffentlich geworden, die Christa Wolf nach eigener Auskunft selbst vergessen hatte. Dieser Erschütterung verdanken sich zwei Bücher: "Akteneinsicht Christa Wolf" - die einzige von einem Autor vollständig vorgelegte "Täter"-Akte. Und das erwähnte Selbstbefragungsbuch "Stadt der Engel".

Es gibt ein spezifisch ostdeutsches Erzählen, das sich in der verstärkten Hinwendung zu Herkunft und Geschichte, Gesellschaft und Landschaft ausdrückt. Christa Wolf war, bei aller Feier im Westen, in dieser Hinsicht eine sehr ostdeutsche Erzählerin, alles Umständliche, Belehrende, auch Übervorsichtige inklusive. Aber es gilt auch für Christa Wolf selbst, was sie 1990 über ihren Leipziger Universitätslehrer, den Germanisten Hans Mayer (1907-2011), sagte: "Es gab Jahre hier, in denen Bücher wie Taten wirkten..." Und Christa Wolfs Bücher waren Taten. Bücher, die den Herbst 1989 vorbereiteten, dem sie selbst in mancher Hinsicht nicht gewachsen war.

Bis zuletzt war die Schriftstellerin als Kandidatin für den Literaturnobelpreis im Gespräch; es wäre eine interessante Wahl gewesen. Dazu wird es nicht kommen. Für Außenstehende völlig überraschend ist Christa Wolf am Donnerstag im im Alter von 82 Jahren nach langer Krankheit im Berliner St.-Hedwig-Krankenhaus gestorben. Ihr Mann Gerhard Wolf ist bei ihr gewesen.

Die Schriftstellerin Christa Wolf (Archivfoto vom 07.07.1971) ist tot. Sie starb am Donnerstag (01.12.2011) im Alter von 82 Jahren in Berlin. (FOTO: ARCHIV/DPA)
Die Schriftstellerin Christa Wolf (Archivfoto vom 07.07.1971) ist tot. Sie starb am Donnerstag (01.12.2011) im Alter von 82 Jahren in Berlin. (FOTO: ARCHIV/DPA)
KU