"Cabo de Gata" von Eugen Ruge "Cabo de Gata" von Eugen Ruge: Urlaub vom eigenen Leben

halle/MZ - Nachwende-Kater in Ostberlin: Die DDR ist weg. Die Gesellschaft auf dem Sprung. Und mittendrin steht dieser mürrische Chemiker, den Eugen Ruge in seinem zweiten Roman „Cabo de Gata“ beschreibt. Ein gleichmäßig frustrierter Single um die 40. Ein Mann ohne Namen, der nicht mehr sein will, was er immer war. Auch dieser Ostler darf endlich seinen Wünschen folgen. Die sind zwar ihrerseits von gestern, das fällt aber nicht sofort auf. Zum Beispiel der Wunsch, ein Schriftsteller zu sein. Eine typische DDR-Idee.
Aber worüber wäre überhaupt zu schreiben? Und wo? Jedenfalls nicht in Ostberlin, das Ruges Ich-Erzähler einfach nicht mehr ertragen kann. Alles nervt den Alteingesessenen, der seit seiner Trennung von Karoline im Hinterhaus lebt. Nicht mehr sehr behaglich. Denn da ist dieser Geruch von abgestandenem Bier und Marihuana, der durch die ewig offen stehende Altbau-Haustür in den Hof weht. Da sind die „sperrmüllartigen Gartenmöbel“, die sich in den Cafés breit machen, in denen BWL oder Politikwissenschaft studierende Kellnerinnen bedienen. Anzugmänner sind unterwegs, die eine Art Mokassins mit Lederbändchen tragen, deren Enden in hüpfende Troddeln auslaufen. Wem so etwas auffällt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Also hilft sich Ruges Erzähler selbst. Er kündigt eine gutbezahlte Stelle am Institut für Chemietechnik. Er kündigt Wohnung und Telefon. Er kündigt alle Versicherungen, ja recht eigentlich kündigt er der ganzen Welt. Und einem Energieversorger, der erst handeln will, wenn ihm die Sterbeurkunde des Antragstellers vorliegt. Der Wunsch kann nicht erfüllt werden.
Auch die Abmeldung beim Einwohnermeldeamt geschieht nicht ohne Komik. Eine Bescheinigung des Vermieters ist vorzulegen, um sich abmelden zu dürfen. Das ist wiederum nur möglich, wenn der künftige Wohnsitz ins Formular eingetragen werden kann. Man ahnt, auf welche amtliche Ermahnung das hinausläuft: „Sie müssen doch wissen, wo Sie hinwollen.“
Beschrieb Eugen Ruge mit seinem 2009 veröffentlichten Nomenklatura-Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ die Auslöschung der DDR-Begeisterung bei deren Bannerträgern, erzählt der Sohn des marxistischen Historikers Wolfgang Ruge nun von der als gesellschaftliche Auslöschung erfahrenen Wende-Realität. „Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war“, stellt der 59-jährige Ruge als Motto voran. In der Tat: Es gibt einen Schwung an Wende-Büchern, aber keines, das so wohltuend frei von moralischen und politischen Dreinreden das Klima einer Zeit einfängt, die ein weißer Fleck in der ostdeutschen Gesellschaftsgeschichte bleibt.
Dabei liefert der studierte Mathematiker keinen Wende-Roman. Die Ostberliner Situation füllt zwar das erste Drittel des kleinen Buches, dessen Leser aber muss keinerlei Osterfahrung besitzen. Ja, nicht einmal ein Ost-Interesse. Denn Ruge gelingt es, die abgebildeten Dinge in eine existenzielle Schwebe zu bringen. In eine kalkulierte leichte Unschärfe, die für jedermann anschlussfähig ist, der gerne einer Figur folgt, die Urlaub vom eigenen Leben nehmen will.
Den Chemiker, der ein Schriftsteller werden will, treibt es ins spanische Küstennest Cabo de Gata, das Kap der Katzen, eine Geisterstadt am südlichen Rand von Europa, wo es fast schon Afrika ist. Die Ostberliner Situation findet hier ihre südeuropäische Entsprechung. Eine Welt des Nicht-mehr und Noch-nicht: Das ist es, was der Reisende sucht, der sich in einer Pension einmietet, um den Anlass und Inhalt zu jenem Roman zu suchen, den er schreiben will. Allein, unter dem Vorwand der freihändigen Recherche verfällt unser Mann immer mehr dem süßen Nichtstun. Die Heiterkeit wächst ohne Grund. Er läuft am Strand entlang, beobachtet die Schwarmlogik der Möwen, nimmt die Menschen in den Blick, die ihm regelmäßig begegnen: die missgelaunte Kellnerin mit dem melonenförmigen Hinterteil, die einbeinige Seniorin, die mit ihrem notorischen Halb-Singsang den Strandgast an seine Staatsbürgerkundelehrerin erinnert: Immer klagt, immer beschwert sich die Alte. Schließlich der Amerikaner, der von seinem als Schriftsteller vorgestellten Gegenüber wissen will, wie er heiße. „Peter Handke“, sagt der.
Ihren Höhepunkt findet die Weltendegeschichte im Auftritt einer Katze, die dem Ostberliner einiges sinnfällig macht. Unter anderem auch, nicht nur stets das Wüten der Welt zu betonen, sondern deren Fließen anzunehmen. Mit Esoterik hat das nichts, mit geglückter Erzählkunst viel zu tun. Wer nach Ruges Roman-Debüt Zweifel hatte, wird nun eines Besseren belehrt. Ja, Ruge ist ein Schriftsteller aus eigener Kraft. Einer, der es schafft, eine kluge und fesselnde Prosa aus fast nichts zu entfalten. Wie in den Staub der Straße, wie in den Sand des Strandes geschrieben. Uneitel. Leichthändig. Mit federnder Energie.