Bürger Lars Dietrich Bürger Lars Dietrich: Beats zum Broiler
Halle/MZ. - timmlage mussten sie irgendwo trainiert haben. "Bürger", schallte es über die Straße, "weisen Sie sich bitte aus." Jetzt zählte keine Ausrede mehr, jetzt musste der Personalausweis der DDR, das immer mitzuführende Dokument, gezückt und beim Volkspolizisten Rechenschaft darüber abgelegt werden, was genau der "Bürger" denn hier gerade tat.
Lars Dietrich erinnert sich ganz genau an solche Szene, wie sie jeder Jugendliche zwischen Ahrenshoop und Zittau Dutzende Male erlebte. "Deshalb habe ich mich doch Bürger Lars Dietrich genannt und nicht DJ oder MC", sagt der 36-Jährige, der als Sohn einer aus Pretzsch bei Wittenberg stammenden Familie in Potsdam aufwuchs. Hier ging er zur Schule, hier wurde er Pionier, hier entdeckte er Hiphop und Breakdance für sich und hier trat er trotzdem in die FDJ ein. Ein Leben ohne Leiden am Staatssozialismus, ja, klar, sagt Lars Dietrich: "Ich war 16, als die Mauer fiel, was später an Härten gekommen wäre, weiß ich ja nicht."
Ob Potsdam, Dresden oder Halle, das ist völlig egal, denn die Erinnerungen sind überall dieselben, hat Dietrich festgestellt. Seit er mit seiner Autobiografie "Schlecht Englisch kann ich gut" durch die Lande zieht, begegnet er sich selbst immer wieder. Es gab in jedem DDR-Kinderzimmer der 80er Jahre den Altar aus West-Getränkedosen. Die Alfons-Zitterbacke-Bücher. Die Versuche, die Lieblingshits vom Fernseher aufzunehmen. Und die bohrende Sehnsucht nach einem West-Kassettenrecorder, die er selbst stillte, indem er die 2 500 DDR-Mark, die er zur Jugendweihe geschenkt bekommen hatte, komplett für einen echten japanischen Sharp mit eingebauten Mikrophonen ausgab.
"Das Ding läuft heute noch", freut sich der Rapper, Tänzer und Comedian, der es das große Glück der ersten und letzten DDR-Hip-Hop-Generation nennt, in einer schon hilflos und matt regierten Republik aufgewachsen zu sein. "Mein älterer Bruder", beschreibt er, "hat sich noch total auf ein Leben in der DDR vorbereitet." Abitur mit Bestnote habe der Große in der Familie Dietrich gemacht. Dann drei Jahre Armee, um sein Wunschstudium zu bekommen. "Als er fertig war, gab's seinen Abschluss dann gar nicht mehr."
Lars Dietrich hingegen hatte nach eigener Ansicht immer Flausen im Kopf und keinerlei Karrierewünsche. "Ich habe als Junge schon seltsame Hörspiele gebastelt, mit mir selbst in verschiedenen Rollen", erzählt er, "und der Film Beat Street hat mich dann auf die Bühne gebracht." 1984 läuft das Rap-Musical über das Leben einer Gruppe von New Yorker DJs, Breakdancer und Sprayer im Westen an. Und weil einer der Produzenten Harry Belafonte heißt, in der DDR ein Synonym für das fortschrittliche Amerika, folgen die Defa-Kinos schon zwölf Monate später.
Was die Kulturbürokratie nicht ahnt: Auf die DDR-Jugend wirkt das mit Musik von Rock Steady Crew und Africa Bambataa unterlegte Drama aus der Bronx wie eine Frischwasserinjektion auf eine vertrocknete Guppy-Population. Nils Klebe aus Magdeburg wird am Tag nach dem Kinobesuch Breakdancer. Christian Bloch aus Halle rast auf dem Skateboard durch die Beatstreets an der Saale. Und in Potsdam beginnt Lars Dietrich, im Wohnzimmer auf dem Boden zu turnen.
Eine ganze Generation geht auf die Suche nach einem eigenen Lebensgefühl. Broiler statt Bronx, POS statt New Yorker College, und der Backspin aus Manhattan heißt im Potsdamer Jugendklub Orion bescheiden "Rückendrehung". Aber, erinnert sich Dietrich, der bis dahin für alte Filmhits geschwärmt und die Pink-Floyd-Platten seines großen Bruders eher kopfschüttelnd als begeistert gehört hatte, "es war das erste Mal, dass ich wirklich etwas für mich entdeckt hatte, das weder meine Eltern noch mein Bruder verstanden haben."
Toll ist das. Wie besessen trainiert er nun Sprünge und Raps und präsentiert sie der weitläufigen Verwandtschaft bei Familienfeiern. Im sachsen-anhaltinischen Pretzsch, genauer im Landgasthof Peters in Priesitz, rappt Lars Dietrich das erste Mal ernsthaft. Vor einem kopfschüttelnden Publikum, aus dessen Mitte seine Tante Hanne schließlich auch noch ruft "Macht mal was anderes!"
Lars Dietrich, damals ein schmaler junger Mensch mit einer geheimen Vorliebe für die Schauspielerin Samatha Fox, hat sich nicht von seinen Träumen abbringen lassen. Mit 14 schon macht der Hobby-Hiphopper seine erste Einstufung als Unterhaltungskünstler. Von da an verdient er mitten im Sozialismus Geld mit kapitalistischer Tanzkunst. "Das war so absurd, dass es schon wieder lustig war", denkt er heute jedes Mal, wenn er zurückkommt in die "Originalkulisse, in der meine Eltern ja bis heute leben." Lars Dietrich findet in seinem alten Haus inzwischen alles sehr klein, ähnlich geschrumpft wie das Erschrecken, das der Ruf "Bürger" aus dem Mund eines Volkspolizisten auslöste. "Meine Generation hat es natürlich viel leichter hatte als die davor", ist ihm klar. Man habe genau gewusst, was man nicht durfte, grient er: "Und das haben wir dann halt heimlich gemacht."
Zum Abschluss der Ausstellung "Halle 1989 / 90" liest Bürger Lars Dietrich am Samstagabend ab 21 Uhr im Stadtmuseum Halle, Große Märkerstraße 10.