Buchenwaldkind Buchenwaldkind: Barfuß an der Hand des Vaters
HALLE/MZ. - Es sind rund 2 000 jüdische Gefangene, die gemeinsam mit dem Vater und seinem Sohn aus den aufgelösten Zwangsarbeiterlagern Plaszow und Skarzysko-Kamienna von Polen her nach Weimar deportiert worden sind. Auch wenn neun Monate später, bei der Befreiung Buchenwalds, rund 900 Kinder aufgefunden werden sollen, ist das Erscheinen Stefan Jerzy Zweigs an diesem Sommertag 1944 eine Sensation.
Denn der dreijährige Knabe ist der jüngste Häftling überhaupt, der bis dahin in das seit 1937 betriebene Lager bei Weimar eingewiesen worden war. Ein Vorbote für Hunderte von Kindern, die da noch kommen werden aus den "gemischt" geführten Zwangsarbeiterlagern im Osten. Für Einweisungen nach Buchenwald galt eigentlich eine Altersgrenze von zuerst 18, später 16 Jahren: Die Häftlinge hatten Schwerstarbeit zu leisten.
Die Lager-SS erschrak
Nun aber erscheint dieses eine, tatsächlich offiziell als Häftling Nummer 67 509 registrierte Kind. Weil es für den Rucksack bereits zu groß ist, läuft es - die Schuhe in der Hand - barfuß neben seinem Vater her auf das Haupttor des Lagers zu. Dort warten SS-Männer, um als Augenzeuge zu erleben, was sich vorauseilend herumgesprochen hatte. Weibliche SS-Angehörige rennen der Kolonne entgegen, um das Kind zu sehen. Der Häftling Willi Bleicher, der für die Rettung Stefan Jerzy Zweigs eine entscheidende Rolle spielen soll, wird Jahre später notieren: "Die Lager-SS erschrak über das Erscheinen dieses Kindes und es war ihr ungemein peinlich."
An Peinlichem und Peinigendem hat die öffentliche Erinnerung an das Schicksal des Stefan Jerzy Zweig nichts verloren - insofern dauert die von verschiedenen Arten von Schrecken, Neugier und Vereinnahmungslust gleichermaßen genährte "Sensation" bis heute fort. Diese ist als pünktlich zum 5. SED-Parteitag fertiggestellter Roman "Nackt unter Wölfen" (1958) ein ideologisch aufgeputzter Bestseller, als gleichnamige Defa-Produktion (1963) ein viel gezeigter und beachtlicher Film, als antifaschistischer DDR-Gründungsmythos ein fortgesetztes Politikum. Aber es ist eben auch die lebendige Geschichte eines lebendigen Menschen: Stefan Jerzy Zweig, studierter Kameramann, 68, der heute in Wien lebt. Und es ist eine große Geschichte in vielen Geschichten.
Diese Geschichte liefert nun der im englischen Nottingham deutsche Zeitgeschichte lehrende Historiker Bill Niven, Jahrgang 1956. "Das Buchenwaldkind" heißt seine Arbeit, die im Untertitel "Wahrheit, Fiktion und Propaganda" zu benennen und sortieren sucht, was auch tatsächlich gelingt. Niven liefert ein insgesamt aufschlussreiches, nützliches, in der Sache überfälliges Werk. Ein Buch, das sich durch einen vorurteilslosen, fairen und beherzten Zugriff auf die Fakten auszeichnet, den man auch tapfer nennen kann. Durch diese Geschichte geht man nicht leichthin.
Dämonisierung abwehren
Dabei hat Bill Niven im Detail nicht recht eigentlich Neues zu bieten, aber das Neue besteht eben genau darin, dass er alle Einzelbefunde endlich zu einem Buch vereint. Und: Niven bietet eine Haltung. Er schreibt an, sehr zu Recht, gegen die platte "Dämonisierung" und mehrheitsgesellschaftliche Ignoranz des kommunistischen Widerstandes gegen das NS-Regime.
In sechs Kapiteln dokumentiert Bill Niven: die Rettung Stefan Jerzy Zweigs (die dieser nicht allein den kommunistischen Häftlingen, sondern eben und vor allem seinem Vater zu verdanken hatte), die Stiftung des Buchenwald-Mythos (als Gründungserzählung des ostdeutschen kommunistischen Staates), die Entstehung und Wirkung des Romans von Bruno Apitz (ein, wie belegt wird, im Dienst der SED-Parteigeschichtsschreibung und des Kalten Krieges von der Zensur eingreifend verfälschtes Prosawerk) sowie Frank Beyers Kinofilm (der es zu wohlwollenden Aufführungen in Amerika, Japan, sogar Israel bring). Er zeigt den ideologisch wenig willfährigen Filmstudenten Stefan Jerzy Zweig in der DDR, der vor Kontakten mit Partei-Dissidenten wie Havemann und Biermann nicht zurückscheute (die SED war stets auf der Suche nach einem ersatztauglichen "Buchenwald-Kind") und schließlich kommentiert Niven die "Dekonstruktion des Mythos vom Buchenwaldkind".
Dass eine solche "Dekonstruktion" notwendig sei, erklärt Niven, allein sie sollte mit historischer, sittlicher, ja, auch emotionaler Fairness vollzogen werden. An all dem mangelt es heute sofort, sobald die Rede auf den sogenannten Opfertausch kommt: Die Tatsache nämlich, dass Stefan Jerzy Zweig im August 1944 - offenbar von KPD-Funktionshäftlingen - von einer Liste gestrichen wurde, die Kinder erfasste, die nach Auschwitz deportiert werden sollten. Statt Zweig wurde der 16-jährige Sinto-Junge Willy Blum in den Tod geschickt. Über diese Tatsache ist einiges geschrieben worden. Aber sehr oft so, als schulde Zweig den Deutschen seinen eigenen Tod. Eine ungeheuerliche Pointierung.
Konkurrenz der Opfer
Selbstverständlich, zeigt Niven, verdankt Zweig sein Überleben nicht ausschließlich dem Streichen von der Todesliste. Er verdankt sein Leben auch dem Einsatz der Funktionshäftlinge vor und nach dem "Opfertausch", vor allem aber verdankt er sein Überleben seinem eigenen Vater. Niven: "Der Fokus auf den ,Opfertausch' ist genau genauso beschränkt wie derjenige der DDR auf Stefan". Im Klartext: Einer politischen Instrumentalisierung folgt hier die nächste.
Letztere zu beenden, leistet Niven seinen Teil. Im Schlusskapitel sogar zu engagiert, so dass es zu Wiederholungen, auch Ungenauigkeiten kommt. Man darf gegen Hans Joachim Schädlichs Roman "Anders" (2003), der - heikel, in der Tat - auch den "Opfertausch" thematisiert, sagen, was man will. Man muss aber erwähnen, wer Schädlich ist: Nämlich ein Autor, der jenen Staat zu verlassen gezwungen war, der unbehagliche Tatsachen wie den "Opfertausch" verschwieg. Und man darf das gesellschaftlich sanktionierte Vergessen des kommunistischen Widerstandes nicht gegen die Gedenkkonjunktur des Kreisauer Kreises aufrechnen, wie es Niven tut. Freya von Moltke, die 98-jährig in Amerika lebt, hat es immer wieder gesagt: Vergesst die Leistungen der Kommunisten nicht! Dem "Opfertausch" ist mit einer Opferkonkurrenz nicht zu begegnen.
Buchpremiere in Magdeburg mit Bill Niven: Dienstag, 7. April, 19.30 Uhr, Stadtbibliothek, Breiter Weg 109.
Bill Niven: Das Buchenwaldkind. Deutsch von Florian Bergmeier. Mitteldeutscher Verlag, 327 Seiten, 24,90 Euro