„Flüchtiges Begehren“ Donna Leon kredenzt 30. Krimi aus Venedig
Commissario Brunetti deckt wieder finstere Machenschaften in Venedig auf. Noch mehr als sonst menschelt der Ermittler in seinem 30. Fall. Donna Leon wartet am Ende mit einem Knalleffekt auf.
Zürich - Eine Stimmungskanone war Commissario Guido Brunetti ja noch nie, aber in seinem 30. Kriminalfall kommt der belesene Polizist aus Venedig besonders melancholisch rüber.
„Ich würde gerne auf dem Land leben und ein Feld bestellen“, sagt der Held aus Donna Leons berühmter Krimiserie erschüttert und nachdenklich, als er seiner Frau Paola über seine neuesten Ermittlungen berichtet.
Im neuen Fall sinniert Brunetti noch mehr als sonst über den Sinn des Lebens und seine bescheidene Herkunft. Einmal droht er sogar, die Contenance zu verlieren: „Einen entsetzlichen Augenblick lang fürchtete er, in Tränen auszubrechen.“ Warum so melancholisch? Da lacht Autorin Donna Leon. „Tja, Brunetti wird halt auch älter“, sagt sie im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „In dieser Geschichte wäre es für jeden schwierig, heiter zu sein.“ Der 30. Fall, „Flüchtiges Begehren“, erscheint am 26. Mai auf Deutsch.
Der Fall: Zwei Amerikanerinnen werden verletzt und bewusstlos vor einem Krankenhaus in Venedig gefunden. Zwei Burschen haben sie dort abgelegt und sich dann mit ihrem Boot aus dem Staub gemacht. Die Polizei macht sie schnell ausfindig, aber geht es hier nur um unterlassene Hilfeleistung? Brunetti riecht, dass etwas nicht stimmt. Er stochert herum, stößt auf verpönte Liebe, auf einen skrupellosen Onkel, der seinen Neffen drangsaliert, auf Angst vor der Mafia und deckt schließlich grausame Verbrechen auf.
Im Lauf der Ermittlungen muss er sich mit der eingeschworenen Gemeinschaft der Bootsleute von Venedig auseinandersetzen, mit Kollegen von anderen Dienststellen und der Küstenwache. Einmal verkleidet er sich mit altem Anzug, zerknittertem Hemd und fleckigem Trenchcoat aus Studentenzeiten à la Inspektor Columbo aus der legendären US-Krimiserie der 1970er Jahre und gibt sich als leicht schusseliger, aber pingeliger Beamter aus, um einem Verdächtigen auf den Zahn zu fühlen. Die Sache läuft schließlich auf einen nächtlichen Showdown in der Lagune und ein dramatisches Ende hinaus.
„Wunderbar, nicht wahr“, sagt die Autorin verschmitzt über den Knalleffekt, der ein paar Fragen offenlässt. Dann erfindet sie am Telefon spontan eine mögliche Fortsetzung der letzten Szene, facettenreich und elegant wie eh und je, garniert mit Details für ein deutsches Publikum. Als reine Spielerei natürlich. Leon mag es, wenn Leserinnen und Leser nach der letzten Zeile etwas zu Grübeln haben.
Der kreative Prozess überrascht auch Leon selbst mit immer neuen Wendungen. „Ich weiß am Anfang nie, wie die Geschichte ausgeht“, sagt die 78-Jährige. „Ich fange an zu schreiben und die Geschichte entwickelt sich von selbst.“ Neue Charaktere, die sie erfindet, können plötzlich zu einer zentralen Figur werden. „Manchmal wüsste ich selbst gern früher, wo die Reise hingeht.“ Bei einer Lesetour in den USA enthüllte sie vor einem Jahr, dass sie schon 50 Seiten des 30. Brunetti-Krimis geschrieben hatte, die sich um ehelichen Missbrauch drehten, ehe sie alles verwarf. „Warum aufheben, wenn es nicht gut ist?“, sagt sie dazu jetzt leichthin.
Ideen für neue Geschichten sprudeln, wenn sie mit Freunden in Venedig spricht, oder bei der täglichen Lektüre der Zeitung „Il Gazzettino“. Leon ist wegen der Corona-Pandemie lange nicht in Venedig gewesen. Die gebürtige Amerikanerin hat lange dort gelebt, ist aber schon vor Jahren vor dem Touristenansturm in einen winzigen Ort ins Engadin in der Schweiz geflohen. Sie nahm auch die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Von dort aus besucht sie Venedig - in normalen Zeiten - oft.
Das Coronavirus kommt im neuen Brunetti nur indirekt und am Rande vor. Wie die 29 Bände davor hütet sich Donna Leon vor Bezügen zu aktuellen Ereignissen, um die Geschichten zeitlos zu machen. Corona sei aber zu einschneidend, meint sie. So sinniert Brunetti an einer Stelle über die „fast menschenleeren Piazza“. An anderer Stelle denkt er über die „schrecklichen, unvergesslichen Zeiten“ nach, als Ärzte und Schwestern in Krankenhäusern ihr Leben aufs Spiel setzten und viele von ihnen starben. „Ich bin optimistisch, dass wir nächstes Jahr über die Pandemie hinweg sind“, sagt Leon.
Für Leserinnen und Leser, die die Brunetti-Verfilmungen aus dem deutschen Fernsehen kennen, ist der Commissario untrennbar mit dem Schauspieler Uwe Kockisch verbunden. Mehr als 20 Mal war er als Ermittler mit dem Faible für klassische Literatur und der Professorin-Gattin Paola zu sehen. Das ist vorbei, die letzte Folge lief Weihnachten 2019. Es gebe Interesse an neuen Film-Projekten, sagt Donna Leon. Entschieden sei aber noch nichts.
Dass Brunetti tatsächlich aufs Land zieht und die Verbrecher ruhen lässt, ist nicht abzusehen, beruhigt Donna Leon. Der Kämpfer für die Gerechtigkeit macht weiter. Der 31. Fall sei fast fertig, sagt Leon.