Briefe erschienen Briefe erschienen: Brigitte Reimann - Deltamädchen an Jotamann
halle/MZ - Sie ist 24, er 28 Jahre alt, als sie sich 1958 das erste Mal begegnen. Zwei junge, vom Alltag und von ihren Ehepartnern überforderte Schriftsteller. Brigitte Reimanns Ehemann Günther sitzt gerade im Gefangnis; die Stasi versucht ihn zu Spitzeldiensten zu erpressen. Siegfried Pitsschmanns Ehe mit Elfriede ist längst gescheitert, aber noch nicht geschieden.
Was tun? Die Autorin aus Burg und der Kollege aus Mühlhausen wollen sich im Schriftstellerheim „Friedrich Wolf“ in Petzow am Schwielowsee erholen. Ausgerechnet dort! In der ehemaligen, nun als offizielle Dichterherberge betriebenen Marika Rökk-Villa, die - so klein ist das „Leseland“ - von den Eltern von Christa Wolf als Hausmeister betreut wird. Ein Ort für vieles, aber nicht zur Entspannung. Zur Schaffens- ist die Beziehungskrise immer garantiert auf diesem „sozialistischen Zauberberg“ (Reimann), wo Krimsekt und Tränen kelchweise fließen.
In der großen Halle dieser Villa also sitzt an einem Märzabend des Jahres 1958 der zarte und eigenbrötlerische Pitschmann, um ganz allein Beethoven im Radio zu hören. Allein und ganz laut: „so dass ich es genießen konnte“, wie er später aufschreiben wird. Dann geschieht das: „Und plötzlich kommt Brigitte Reimann mit einem Rattenschwanz von Männern herein und hört gar nicht auf die Musik und sagt: ,Gibt’s denn hier nicht ein bisschen Jazz oder was anderes Flottes?“ Und plötzlich: „drehte sie am Radio herum!“ Und: „Jedenfalls bin ich wütend aufgestanden und habe strahlend gesagt: ,Das ist Oistrach, meine Dame - er spielt Beethoven!’ Völlig irrsinnig! Da schaute sie mich sehr erschrocken an mit weit aufgerissenen Augen, kurzsichtig bis fast zur Blindheit. Aber dadurch wirkten ihre Augen besonders schön, leicht verschleiert.“ Dann: „Ich habe den Sender also wieder zurückgedreht. Sie entschuldigte sich, und die ganze Truppe verschwand wieder.“
Aber etwas anderes beginnt: Das, was Brigitte Reimann eine „Wahnsinns-Liebe“ nennen wird. Eine Liebe aus dem Schriftstellerheim. Eine Liebe, in der von vornherein auch ein Missklang zu hören ist. „Das ist Oistrach, meine Dame!“ Aber eine große Liebe. Zwischen zwei Menschen, die sich einerseits ähneln wie Brüderchen und Schwesterchen, andererseits in ihren Anlagen grundverschieden sind. Sie braucht immer Menschen um sich herum, er nur einen Menschen. Sie schreibt an einem Tag Dutzende Seiten, er an Dutzenden Tagen manchmal nur zwei, drei Zeilen. Sie will „was Flottes“ in allen Dingen, er Oistrach ganz allein. Ein Paar wie Wodka und Kamillentee. Aber die Mischung macht’s. Die Ehepartner erhalten sofort die Laufpässe. Schon im August 1958 sind die Ehen geschieden, im Februar 1959 werden Brigitte und Siegfried heiraten - in Petzow! Das jüngste, schönste und hoffnungsvollste Schriftstellerpärchen der DDR nimmt seinen Weg. Von Burg in der Altmark aus, wo Brigitte Reimanns Eltern leben, siedelt das Paar 1960 nach Hoyerswerda über, in die Stadt des sozialistischen Aufbruchs.
Sie und er: Was das war, davon geben die 148 Briefe eine Ahnung, die zwischen Reimann und Pitschmann hin- und hergegangen sind. Kristina Stella hat die Briefe jetzt herausgegeben als ein gut sortiertes und handhabbares Buch im Aisthesis Verlag. Der erste Brief stammt vom April 1958, der letzte vom Februar 1972. Dazwischen liegt ein Liebesleben in Briefen, das sich unterteilen lässt: in eine schreibselig schwer verliebte, in eine taktierende - spätestens von 1961 an führt Brigitte Reimann eine Nebenehe mit dem Autor Hans Kerschek (Jon), den sie 1965 heiraten wird - und in eine freundlich kollegiale Nach-Ehe-Phase zuletzt.
„Mein Heimweh nach Dir ist grenzenlos“, endet der erste Brief, den Pitschmann verfasste. Und nach allem, was man noch lesen wird: Er untertreibt wohl mehr. Nach den griechischen Buchstaben nennt er sie „Deltamädchen“, sie ihn „Jotamann“; das ist sinnlich zu nehmen: das Delta als der weibliche Schoß. Die Liebesbriefe sind alle ganz großartig, aber auf Dauer eben auch eintönig, denn die Welt bleibt außen vor. Nur am Rande taucht der Alltag im kleinstädtischen Burg (Reimann: „Du weißt, wie ich diese stillen Sonntage hasse“) und im DDR-Literaturbetrieb auf, der hier auf das Schriftstellerheim Petzow zusammenschnurrt (Reimann: „Eben war ich bei Reiner [Kunze] drüben - er wohnt neben mir, und wir besuchen uns immer über den Balkon“.
Man liest die von 1961 an verfassten Briefe der Reimann wohl so, wie Pitschmann diese gelesen haben muss: mit Misstrauen. Denn Brigitte Reimann schreibt in Herzensdingen vollmundig, aber selten die Wahrheit, wie die zum Verständnis unabdingbare Parallel-Lektüre ihrer Tagebücher zeigt. „Frau Katers“ Liebes- und Eheschwüre? Die Tagebücher relativieren alles und zeigen die Briefe auch als ein taktisches Kunstwerk.
Zu begreifen ist nur die Traurigkeit Pitschmanns: „Wer bist du?“, schreibt er 1964. „Ich weiß es nicht mehr. Ich begreife nichts mehr, und begreife alles. Ich muß Dir voll Pein gestehen, daß Du mich zerrüttet hast...“ Brigitte Reimann findet bei Pitschmann „Geborgenheit“, aber keine Erfüllung. 1964 wird die Ehe geschieden; eine Beisitzerin im Gericht bricht in Tränen aus, weil sie Reimann und Pitschmann für ein „so wunderbares Paar“ hält. Noch zwei Mal wird Brigitte Reimann heiraten; sie stirbt 1973 im Alter von nur 39 Jahren. Pitschmann heiratet ein zweites Mal, lebt erst in Rostock, von 1989 an in Suhl, wo er 2002 stirbt.
Eine große, aber unmögliche Liebe zeigt sich in den Briefen, die ohne die Mit-Lektüre der Tagebücher nur misszuverstehen ist. Was nicht gegen die Veröffentlichung der bis in ihre Ausflüchte hinein doch sehr privaten Schreiben spricht. Sie zeigen einmal mehr, dass eine vollständige und von den vielen Auslassungen befreite Ausgabe der Tagebücher überfällig ist.