Botho Strauß Botho Strauß: Umerziehung zur Altersklugheit
Halle/MZ. - Pech für alle jene, "die unter dem Einfluss des erotischen Zynismus aufwuchsen, der letztlich arschbackenkneifenden Sinnenfreude der Brecht und Konsorten."
Schon steuert der Feingeist von der DDR-Nackt- zur Buchkultur über: "Authentische DDR-Autoren waren eigentlich nur Peter Huchel und Johannes Bobrowski. Wer sich in dieser Diktatur nicht der Natur zuwandte, hat sie nicht tief genug erlebt. Alles übrige - Problemliteratur, vergeblicher Streit um ein vergebliches Land. Ärmelschoner-Existenz, geistig gesehen. Gleichwohl: Welch ein Aufenthalt! Welch eine Versammlung wider die Zeit!"
Und was für ein wunderbar wütender Redefluss! Schöne scharfe Sätze darunter. Es geht ja nicht um letzte Wahrheiten, sondern erste Impulse. Solche hat Strauß in seinem neuen Buch "Vom Aufenthalt" einige zu bieten. "Erotischer Zynismus", geistige "Ärmelschoner-Existenz": Das sind schon treffende Begriffe. Es ist ja nicht üblich, von Westen her kritisch über den Osten zu reden: Man hält sich raus, interessiert sich nicht, warum auch.
Aber Botho Strauß, der am Mittwoch 65 Jahre alt wird, ist eben nie ein lupenreiner Westler gewesen. Nicht allein, weil er 1944 in Naumburg geboren wurde, sondern auch, weil der Schriftsteller und Publizist seine Prägungen auf der Insel Westberlin erhielt, wo er über Jahre Peter Steins Hausautor an der "Schaubühne" war. Heute lebt Strauß in der Uckermark. Als eine Art Privatautor, auf dessen Bücher der Literaturbetrieb wartet. Als Mahner und Mythomane zwischen Kopfweiden und Schlehenblüten. Als Kulturkritiker, der die beste neue an den besseren vergessenen Zeiten misst.
So auch in "Vom Aufenthalt": eine Sammlung von Maximen und Reflexionen, Miniaturen in Prosa, kulturkritischen Notaten. Ein "Aufenthalt" in dreifacher Hinsicht: als das Warten des Erzählers, als das Gegenhalten des Traditionalisten, als die letzte Station vor dem Tod. Ein Buch der Selbstbekenntnisse: "Es ist schön, in der Erhebung zu stehen, das Herz voll Umsturzfreude. Es ist aber auch schön, keine Revolution mehr vor sich zu haben." Ein Buch der Poesie: "Der Kuss sucht nach der Quelle des Lächelns". Ein Buch der Kritik: "Prangte die feudale Gesellschaft mit Kunst, Muße und Krieg, so prangt die unsere mit kolossalem Reichtum an Institutionen. Unzählige Stütz-, Schutz- und Fürsorgeeinrichtungen sind unsere Loire-Schlösser..." Nicht vom Hundertsten ins Tausendste, sondern umgekehrt geht es voran zum Einzelnen.
Was der alternde Strauß den vielen Alten empfiehlt? "Kundschafter" sein: Wissen heben, pflegen, verbreiten. Deshalb müssten die Greise erst einer "Massenumerziehung zur Altersklugheit" zugeführt werden. Montaigne, Leopardi, Goethe nach Plan! "Streng verboten ist der Satz: das verstehe ich nicht. Keine Bildungsreisen, keine stopfende Medienkost, immer fleißig mit der Bleistiftspitze die Zeilen lang." Das kann man mit dem neuen Strauß-Buch schon einmal üben.
Botho Strauß: Vom Aufenthalt. Hanser Verlag 352 Seiten, 19,90 Euro