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"Blackbox" "Blackbox": Rio Reiser: Der König als junger Prinz

Von Steffen Könau 07.12.2016, 11:00
Rio Reiser bei seinem letzten Auftritt in Halle am 23. Mai 1996
Rio Reiser bei seinem letzten Auftritt in Halle am 23. Mai 1996 Steffen Könau

Halle (Saale) - Wenn Marius del Maestre bei Konzerten „Jenseits von Eden“ spielt, dann tanzen vor der Bühne meist Menschen, die nicht einmal geboren waren, als Rio Reiser das Lied schrieb. Del Maestre, heute mit dem in Königswiek bei Halle lebenden Bassisten Akki Schulz unter dem Namen „Scherbe Kontra Bass“ bundesweit als Scherben-Erbverwalter unterwegs, war damals gerade neu eingestiegen bei der Rockband Ton Steine Scherben, die gerade auf dem Gipfel ihrer Kreativität angekommen war. Alles ging, nichts war mehr verboten in der Band des späteren „Königs von Deutschland“ Rio Reiser, egal ob Querflöte, Trompete, Posaune, Banjo oder Kinderchor.

Ganz ähnlich wirkt die „Blackbox“, eine voluminöse, auf 16 hübsch wie Vinylschallplatten gestalteten CDs ausgebreitete Werkschau des vor 20 Jahren verstorbenen Sängers, Pianisten, Komponisten und Texters Reiser, der eigentlich Ralph Möbius hieß.

Reiser als romantisch träumender Teenager in seinen ersten Songs

Noch unter diesem Namen begann der jüngste von drei Brüdern schon mit 13, erste Lieder zu schreiben und aufzunehmen. Die jetzt vorliegende, insgesamt 360 Songs umfassende Sammlung, in jahrelanger Arbeit zusammengestellt von Reisers Freund und letztem Gitarristen Lutz Kerschowski, zeigt den späteren Rockstar und Hitparadenstürmer zu Beginn als romantisch träumenden Teenager.

„Walking alone the shore tonight“ singt Reiser mit 15. Er klingt wie Bob Dylan, die Gitarre wird gezupft, eine Mundharmonika heult. Auch „I’m such a lonely boy“, von Kerschowski aus Reisers mehr als tausend Tonträger umfassenden Privatarchiv gegraben, ist kompositorisch eine Fingerübung. Aber der nun 16-Jährige produziert sich schon mit übereinandergelegten Spuren voller Gesangsstimmen.

Rio Reiser schreibt Sehnsuchts-Songs a la Marius Müller-Westernhagen

Von Anfang an hat Rio Reiser es ernstgemeint mit dem Singen. Nur wohin es gehen sollte, das wusste er nicht. In der „Blackbox“, die der aus Wittenberg stammende Chef des Plattenlabels Buschfunk, Klaus Koch, den „Fahrtenschreiber eines Lebens“ nennt, folgen auf die frühen Werke mit ihren englischen Texten schlagerhafte, an die ersten Alben des jungen Marius Müller-Westernhagen erinnernde Versuche. „König und Clown“ heißt ein Stück, das Rio Reisers Talent verrät, ungewöhnliche Blickwinkel zu finden. „Freitagabend“ dagegen, ähnlich gestrickt, ist reiner Eskapismus in Noten. Ein Sehnsuchtssong mit Flöten und Fernsehgarten-Gitarren, den Reiser mit fremder Stimme zu intonieren scheint.

Linke Rebellion: Ton Steine Scherben

Erst mit 22 Jahren tritt der Mann hinter der Musik hervor. Rio Reiser versucht da schon, gemeinsam mit R.P.S. Lanrue, Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel als Ton Steine Scherben ernsthaft Musik zu machen. Zur Gruppe mit dem - von außen übergeholfenen - Anspruch permanenter linker Rebellion aber passen bestimmte Songs nicht. „Asphaltcowboy“ etwa, von Reiser allein zu einer wackligen Akustikgitarre gesungen, ist eine Meditation in eigener Sache. „Ja, ich bin vom anderen Ufer“, singt Reiser, der aus seiner Homosexualität kein Geheimnis, aber auch nie ein großes Thema gemacht hatte. „Und der Fluss, das ist unsere Angst“.

Reiser schreibt Soundtracks, Revuetheaterstücke und Musicals

Eine Nahaufnahme des Königs als jungem Prinzen, schon beladen mit alldem, was ihn später immer wieder niederdrücken wird. Aber auch witzig. Wie Rio Reiser den Peter-Hacks-Text „Herr Dein Wort, die edle Gabe“ als Choral singt oder „Wir wollen in unserer Wohnung bleiben“, von seinem Bruder Peter für eine TV-Sendung geschrieben, kräht, das hat schon alle Ingredienzien, die spätere Scherben-Stücke wie den „Rauch-Haus-Song“ und Rio-Solohits wie „Alles Lüge“ ausmachen werden.

Reiser, nach dem Ende der Scherben gerade Mitte 30 und schwer verschuldet, war ein hochproduktiver Songschreiber, der am liebsten in großen Konzepten dachte. Schon mit 13 hatte er Lieder für „Hoffmann’s Comic Teater“ geschrieben, mit dem seine Brüder durch die Lande zogen. Parallel zu den Scherben komponierte er Soundtracks, Revuetheaterstücke und er belieferte Conny Littmanns Theater Brühwarm mit ganzen Musicals.

Reiser will raus aus dem Politrock

Fast wirken diese oft kurzen, ja, geradezu winzigen Liedlein wie ein Notausgang aus der Welt des beinharten Politrock, in die sich Rio Reiser durch Publikum und Medien gedrückt fühlte. „Wir sind die blauen Matrosen / mit den blauen Hosen“, nölt er einen absurd trotteligen Text von Ludwig Boettger. Oder er schwelgt bei „Wären wir zwei Sterne“ zu rudimentärer Instrumentierung in herzblütigen Gefühlen, für die im klassenkämpferischen Kosmos des Agit-Prop-Rock der Scherben kein Platz ist.

„Blackbox": Mit unverwechselbarer Handschrift

Wie Rio Reiser auch darunter litt, wie er schwankte und zweifelte, hat er selbst in seiner frühen Autobiografie beschrieben. In der „Blackbox“ kommen nun Weggefährten wie seine Brüder Peter und Gert und die „Scherben“ Kai Sichtermann, Nikel Pallat und Wolfgang Seidel zu Wort. In einem üppigen Begleitbuch schildern sie ihre Sicht. Zusammen mit der Musik, die über die komplette Distanz eine sich verändernde, aber unverwechselbare Handschrift verrät, entsteht so eine Dokumentation, die den Menschen Ralph Möbius hinter dem öffentlichen Künstler Rio Reiser erkennen lässt.

Hätte Rio Reiser das gewollt?

Doch hätte Rio Reiser gewollt, dass all seine Versuche, dass manche - rein technisch allenfalls Demo-Niveau erreichende - Aufnahme nun öffentlich wird? Dass sein Tasten nach Tönen, sein Weg aus dem Proberaum in die Hitparade Station um Station nachvollzogen werden können? Weil der immer wieder unglücklich verliebte, immer wieder von sich und der Welt enttäuschte Deutschrock-Pionier im Sommer vor 20 Jahren plötzlich starb, kann ihn danach niemand mehr fragen. So kann Rio Reiser auch nicht nein sagen. Zumindest für die, die den unglücklichsten deutschen Rockstar in all seinen Facetten kennenlernen wollen, ist das ein großes Glück.

Einen Rio-Reiser-Liederabend führt das neue theater in Halle das nächste Mal am 28. Dezember auf. Die Vorstellung ist ausverkauft. Weitere Termine sind 27. Januar und 17. Februar 2017

(mz)