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Bitterfelder Konferenz Bitterfelder Konferenz: Dieser Weg wird kein leichter sein

Von CHRISTIAN EGER 26.04.2009, 16:55

BITTERFELD-WOLFEN/MZ. - Ob als Zitat, Erinnerung oder kurioses Element: Immer wieder blitzte die Getreidepflanze in den Beiträgen auf, die zurück in das Jahr 1959 führen sollten. "50 Jahre Bitterfelder Weg" waren im gut gefüllten Kulturhaus zu würdigen, ein Weg, an dessen Rändern eben genau jene Pflanze grüßte, von der sich der sowjetische Staats- und Parteichef Chruschtschow nicht weniger als ein Landwirtschaftswunder erhoffte - und zwar ostblockweit.

Was der 1957 gestartete Erdsatellit Sputnik für die Raumfahrt, der 1957 vom Stapel gelaufene Atomeisbrecher "Lenin" für die Schifffahrt, das sollte der Mais für die Landwirtschaft werden: der Schlüssel zum Systemerfolg. Und Hans Bentzien war dabei. Seit 1958 in der SED-Bezirksleitung Halle für die Kulturarbeit zuständig, hatte er Chruschtschow im Sommer 1958 durch den Bezirk Halle begleitet.

Die Wurst am Stengel

Vom Wolfener Podium aus erinnert sich der nunmehr 82-Jährige an Chruschtschow in der Genossenschaft in Schafstädt. Dort, sagt Bentzien, hätte der Staatschef die "Erleuchtung" gehabt, dass der Mais "die Wurst am Stengel" sei. Ob das so zutrifft, sei dahingestellt. Unstrittig ist, dass Nikita Sergejewitsch zuvor in Amerika gesehen hatte, wie fett mit Mais gefütterte Schweine in kürzester Zeit werden können. So sollte es überall geschehen. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Was er denn von Landwirtschaft verstehe? Diese Frage des SED-Bezirkschefs Bernard Koenen musste Bentzien für Chruschtschow ins Russische übersetzen. Koenen bangte um den mitteldeutschen Boden, der zu schade für den Maisanbau sei. Chruschtschow verstand die Frage gar nicht: Es sei doch offensichtlich, wie genial die Mais-Idee sei! "Und so ist es gekommen, dass ihr um den Maiskolben tanzen musstet", wendet sich Bentzien vom Wolfener Podium herab an Karin Kuschmann. Die Thüringerin hatte zuvor erzählt, wie sie vor 50 Jahren auf Bühnen um einen riesigen Maiskolben zu tanzen hatte. Unter Absingen der Zeilen: "Der Mais, der Mais, wie jeder weiß, das ist die Wurst am Stengel!"

Operetten-Wirtschaft? So ließe es sich heute zuspitzen. Aber ohne Chruschtschows Euphorie und Ulbrichts Optimismus ist die Bitterfelder Konferenz nicht zu begreifen, die ja tatsächlich ein kultur- und bildungspolitisches Instrument zur ökonomischen DDR-Ertüchtigung war - nicht zufällig hervorgegangen aus einer Ideenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages zur Beförderung des 59er Chemie-Programms. Eine Vision hatte man also. Aber hatte man auch Arbeiter, die diese hätten umsetzen wollen?

In den Chemiebetrieben waren keine Bilderbuchproletarier anzutreffen, sondern Kriegsheimkehrer, Vertriebene, Gestrandete, Illusionslose fast immer. "Wilde Hechte", wie Bentzien in Wolfen über die berühmte Brigade "Mammai" sagt. Von deren 25 Mitgliedern seien bis auf zwei oder drei alle ungelernt gewesen. Der Brigadier Bernhard Büchner zum Beispiel war ein früherer Mann der Waffen-SS. Kein Parade-Sozialist also. "Diese Brigade", sagt Bentzien, "sah nicht so schön und so bunt aus wie auf den Gemälden, die es von ihr gibt."

Der Wirtschaftswissenschaftler Rainer Karlsch (Berlin) zeigt die Fakten zum Chemieprogramm. Demnach hatte Chruschtschow beschlossen, dass die Sowjetunion die USA bis in die 70er Jahre in allen wichtigen Wirtschaftszahlen einzuholen hätte, die DDR die BRD bis 1961. Das sei nicht nur Wunderglauben gewesen, sagt Karlsch. Die Westwirtschaft befand sich in einer Krise, nennenswerte Zuwächse gab es allein im Osten; sogar West-Prognostiker sahen Ost und West bald auf einer Höhe. Der Fehler habe darin bestanden, Ost-Wachstumserfolge als unbegrenzt in die Zukunft fortzumalen. Aber die sowjetischen Öl- und Gaszufuhren reichten nicht aus, um die Chemiewirtschaft der DDR auf Dauer konkurrenzfähig zu machen. Von den 70er Jahren an ging es bergab: Die Exporte brachen ein.

Kunst hilft Kohle

Die Chemie- mit der Bewusstseinsindustrie zu beflügeln, darum ging es in Bitterfeld 1959. Dabei hatte diese Konferenz weder den Arbeiterschriftsteller noch den Betriebskulturzirkel erfunden. In der Produktion sind Autoren seit 1946 nachweisbar, zeigt die Germanistin Annette Schuhmann (Potsdam). Das "Kunst hilft Kohle"-Programm lief bereits vor 1959, erwähnt Rainer Karlsch. Den Malzirkel des Bitterfelder Kombinates gibt es seit 1952; dessen ältestes Mitglied, der 88-jährige Herbert Ruland, ist zu Gast in Wolfen. Was war dann das Eigene der Konferenz? "Die direkte politische Funktionalisierung der Kultur", sagt der Historiker Christoph Kleßmann (Potsdam). Eine Funktionalisierung, die der DDR selbst peinlich war. In den Literaturlehrbüchern spielt das Ereignis bald nur noch eine Randrolle.

Ist der Bitterfelder Weg gescheitert oder nicht? "Quatsch" sei so eine Fragestellung, sagt der Kultursoziologe Dietrich Mühlberg (Berlin). "Soziale Unterschiede werden ja nicht dadurch aufgehoben, dass alle Menschen Bücher lesen." Diese Frage stehe heute noch, sagt Mühlberg: Wie wären in einer sozialistischen Gesellschaft die sozialen und kulturellen Unterschiede aufzuheben? Wie wäre eine Bildungsgesellschaft zu gestalten?

Allein vor dieser Frage steht die bürgerliche Gesellschaft genauso. So kann man die Bitterfelder Anstrengungen von 1959 zwar belächeln, lächerlich sind diese nicht. Heute ist "Bildung" ein Modewort. Und Ulbrichts Bitterfelder Ansprache von 1959? "Das war, was man heute eine Ruck-Rede nennt", sagt Hans Bentzien. "Der Bundespräsident hält immer mal wieder so eine Rede. Nur über den Mais hat er noch nicht gesprochen."