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Biografie über Henry Kissinger  Biografie über Henry Kissinger : Der Schattenmann

Von Steffen Könau 28.05.2016, 20:52
Männer, die Geschichte schrieben: Gorbatschow, Kissinger und Genscher (von links) 1993 in Halle.
Männer, die Geschichte schrieben: Gorbatschow, Kissinger und Genscher (von links) 1993 in Halle. MZ

Halle (Saale) - Mit knapper Not entkommt der zehnjährige Heinz Alfred dem ihm zugedachten Schicksal. Im September 1938 gelingt es Vater Louis und Mutter Paula Kissinger, mit ihrer kleinen jüdischen Familie aus dem zusehends judenfeindlicher werdenden mittelfränkischen Städtchen Fürth in die USA zu flüchten.

Kissinger ist Flüchtling

Statt wie viele seiner zurückgebliebenen Verwandten in Deutschland den Tod in der Gaskammer zu finden, wird Heinz in New York zu Henry und aus Henry wird einer der amerikanischen Denker und Politiker, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägen. Kissinger ist Flüchtling, dann kehrt er als GI nach Deutschland zurück. Er arbeitet in der US-Militäradministration, wird Spion und Lehrer, studiert Politikwissenschaften und verwandelt sich vom Buchautoren und Präsidentenberater zu einem Außenminister, der seine theoretischen Politikansätze selbst in der Praxis testet.

Der Brite Niall Ferguson hat den Versuch unternommen, Kissingers bewegtes Leben zwischen Fürth, Saigon und Washington in einer monumentalen Biografie zu erzählen. Zehn Jahre hat der Historiker am ersten Band geschrieben, dem er den Titel „Kissinger: Der Idealist“ gegeben hat. Ein Werk von ähnlicher Wucht wie das Lebenswerk des Mannes, der am Freitag 93 Jahre alt wurde. 1 120 Seiten umfasst allein die Beschreibung der ersten Lebenshälfte Kissingers von 1923 bis 1968. Es ist - wohlgemerkt - die Hälfte des Lebens, in der noch nicht so viel passiert.

Fade Stellung als externer Berater

Denn zwar hätte Henry Kissinger damals schon immer gern gewollt. Doch als er mit dem Studium fertig ist, wartet nicht der ersehnte hochrangige Posten in der Administration des amtierenden US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower, sondern nur eine fade Stellung als externer Berater. Und Nelson Rockefeller, das Pferd unter den Präsidentschaftsbewerbern, mit dem Kissinger eigentlich ins Weiße Haus reiten will, lahmt Mal um Mal. Immer siegen die anderen, erst Kennedy, dann Nixon. Der Idealist Kissinger, so schreibt Ferguson, verfasst im kalten Krieg die klügsten Bücher, die schärfsten Analysen. Politik machen andere.

Es hat den Harvard-Professor gewurmt. Immer wieder, so sagen es die Unterlagen, die Kissinger seinem Biografen quasi aufdrängte, bewirbt er sich um eine Mitarbeit. Kissinger fliegt nach Südostasien, um den Konfliktherd Vietnam zu studieren. Er pflegt Kontakte zu Sowjet-Wissenschaftlern, um seine Konflikttheorien zu prüfen.

Der Lehrersohn, der Immanuel Kant verehrt und Bismarck bewundert, wenngleich er glaubt, dass dessen praktische Politik mit Unmengen von Fehlern behaftet war, lehrt sich selbst Weltpolitik. Als Berater in der Kuba-Krise kommt er nur ganz von fern zum Zuge. Aber nach und nach hören die Mächtigen im Lande zu, wenn er sich zu Wort meldet.

Richtige Mischung aus Härte und Flexibilität

Dass ihn dann ausgerechnet der Mann ruft, mit dem er am wenigsten gern zusammenarbeiten möchte, ist eine Ironie dieser großen Lebensgeschichte. Richard Nixon gilt Kissinger menschlich als Widerling. Politisch - und das ist noch viel schlimmer - ist der Kalifornier ein Schwächling, dem Kissinger nicht zutraut, die richtige Mischung aus Härte und Flexibilität zu entwickeln, mit der allein sich Amerika aus seiner Sicht auf der Weltbühne verteidigen lässt.

Kissinger ist aber nicht nur Idealist, sondern auch Realist und sogar Opportunist. Als Nixon ihn bittet, sein Sicherheitsberater zu werden, sagt er zu, im zweiten Anlauf, denn im ersten haben die beiden Männer während ihres gemeinsamen Gespräches leider nicht verstanden, was der eine vom anderen will. Eine Panne, die am Anfang des Wandels in der Welt steht, der 1989 die Mauer in Berlin fallen lassen wird: Kissinger ist es, der Nixon zur Änderung der amerikanischen China-Politik rät. Die wiederum steht am Beginn des Endes des Vietnam-Krieges, auch wenn das sich noch lange hinzieht.

1973 erhält Kissinger den Friedensnobelpreis, als Außenminister der USA setzt er auf Entspannung und Rüstungskontrolle, immer kombiniert mit der Botschaft nach Moskau, dass Nachgeben kein Einknicken ist. Henry Kissinger hatte nie Zweifel daran, dass es der Welt am besten geht, wenn die Vereinigten Staaten ihr Schicksal bestimmen. „Globalisierung ist nur ein anderes Wort für US-Herrschaft“, hat er einmal gesagt. Ein Idealist, der weiß, dass er seinem Heimatland alles schuldig ist. (mz)