Augusteum Wittenberg Augusteum Wittenberg : Aufgeräumte Stuben im ehemaligen Predigerseminar

wittenberg/MZ - Das letzte Mal, dass im - oder wenigstens vor dem Hause Luther Geschichte geschrieben wurde, war am 24. September 1983. Im Schutze der Nacht, des Lutherjahres und des Kirchentages, aus dessen Anlass der designierte westdeutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Wittenberg weilte, fand im Hof der „Staatlichen Lutherhalle“ die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ statt. Ihr Spiritus Rector, der Theologe Friedrich Schorlemmer, erinnert sich an „jüngere Menschen, dicht gedrängt, emotional berührt“, wie sie dem Schmied „viel hundertfaches hoi!, hoi!, hoi! anfeuernd zuriefen“.
Schorlemmer zitiert in seiner Autobiografie „Klar sehen“ auch aus dem Aufsatz, den seine damals 13-jährige Tochter Ulla über das Ereignis zu schreiben wagte. Vielleicht wäre das Heft eine passende Leihgabe für die Stiftung Luthergedenkstätten, die bis zum Reformationsjubiläum 2017 die größte Erweiterung der Ausstellungsflächen plant, seit die Preußen die „Lutherhalle“ einrichteten.
Direktor Stefan Rhein spricht von sowohl denkmal-unschädlicher als auch barrierefreier Erschließung und darüber hinaus vom „Bildungsquartier“, das der Museumspädagogik, gar einem „Kindermuseum“ Raum gibt.
An Schorlemmer kommt die Stiftung mit dem Ausbau des straßenseitigen Vorderhauses, das sie vom Predigerseminar übernommen hat, das seinerseits ins Schloss zieht, so oder so nicht vorbei. Nicht nur, weil der gegen den gläsernen Gang wettert, den die Stiftung zwischen den Gebäuden errichten will. Die Kritik des Theologen an der angeblich bedrohten Unberührtheit des Ortes hat auch damit zu tun, dass ein Teil seines Lebens in die obenauf liegenden Zeitschichten gehört, die in dem Bauwerk gerade freigelegt werden. Wie das gemeint ist, kann man jetzt sehr genau studieren, wenn man durch das leer geräumte Haus geht. Restauratoren haben an Decken und Wänden die Farbschichten freigekratzt, Bauhistoriker erkunden historische Raumstrukturen hinter Ein- und Umbauten, Statiker haben Schächte in die Dielen getrieben. Die liegen in vier, hie und da sogar fünf Lagen übereinander - so viele, wie das Haus Improvisationen aufgrund wechselnder Nutzungen erlebt hat. Das war auch so, als Familie Schorlemmer einen Trakt bewohnte, den die Stasi „bis zur letzten Steckdose“ genau kannte, wie es in „Klar sehen“ heißt. Das Predigerseminar richtete sich der Zeit entsprechend ein so gut es ging, und erst recht nach der Wende, als Küchen-, Heizungs- und Sanitäranlagen mit dem Angebot der Baumärkte aufgerüstet wurden.
Freilich sind diese wenig denkmalgerechten Hinterlassenschaften die letzten Zeugen der erst jetzt abbrechenden Bewohnergeschichte des Hauses. Über die Jahrhunderte war dessen Bestimmung vom einen zum anderen weitergereicht worden. Es ist diese ineinander greifende Abfolge, die das Haus zum Studienobjekt der Forschergruppe „Ernestinisches Wittenberg“ macht und an die Stiftung Lutherstätten die Herausforderung stellt, im künftigen Museum das Haus für sich sprechen zu lassen.
Isabelle Frase und Ulrike Ludwig sind die ersten, die es systematisch erforschen: erstere zur Bau-, letztere zur Nutzergeschichte. Für die Eckpunkte genügen ein paar Daten. 1502 war die Universität gegründet worden, die mit Luther und Melanchthon zum Zentrum der Reformation aufstieg. Das erst 1503 begonnene Augustinerkloster wurde aufgelöst, den einzig fertigen Flügel überließ Kurfürst Friedrich der Weise im Jahr 1524 Luther zur Wohnung. Kurfürst August beförderte den ohnehin starken Zustrom an Studenten, als er 1564 Mittel für 27 Stipendien freigab. Von Luthers Erben kaufte er das Wohnhaus und ließ es zum Studentenheim umbauen, das seitdem „Collegium Augusteum“ hieß.
Der Name übertrug sich auf den neuen, L-förmigen, aber mit dem Lutherhaus unverbundenen straßenseitigen Flügel, der errichtet wurde, als der Fürst 1580 weitere 150 Stipendien ankündigte. Das Bauwerk war nach rekordverdächtigen zwei Jahren fertig, aber obwohl der Hofbaumeister Hans Irmisch verantwortlich war, stellten sich Ende der 1580er-Jahre erste Baumängel heraus. Damit setzte die Geschichte von Flickschusterei und Umbauten ein. Isabelle Frase hat die ursprüngliche Raumstruktur ermittelt: An Fluren aufgereiht, bildeten eine beheizbare „Stube“ und unbeheizte „Kammer“ jeweils eine Studentenbude.
Ulrike Ludwig berichtet über die Herkunft der Studenten, die Hausordnung und die Funktionsträger, zum Beispiel den „Aufwärter“ Troedtler (Vorname unbekannt), dem 1745 aufgetragen war, „die Stuben der Studenten einmal wöchentlich zu kehren, ihre Betten täglich zu machen, und ihnen morgens das Waschwasser zu bringen“. Lustig allein war das Studentenleben aber nicht. So ist von einem (nicht lokalisierten) Karzer die Rede, vor allem aber gab es mit den großen Sälen in Erd- und erstem Obergeschoss Räume für Lehre und Promotionsfeiern.
1598 zog die Bibliothek mit ihren damals nur wenigen Bänden aus dem Schloss ins Haus. Anders als das 1736 eingerichtete Anatomische Theater hatte sie Bestand und wuchs, auch als 1760 das Juristenkolleg einzog, das 1817 vom Predigerseminar abgelöst wurde. Der Exodus der Bücher ins Schloss kappt nun diese letzte Verbindung des Hauses zu seinen Ursprüngen.
Für die Stiftung wäre das Grund genug, darüber nachzudenken, ob das Museumskonzept auch diese Zeitschicht wenigstens repräsentativ berücksichtigen könnte: Ein Saal der bibliophilen Kostbarkeiten, die bei Bedarf auch dem Studium zur Verfügung stehen, wäre keine geringe Attraktion.