Atemberaubend sinnlich Atemberaubend sinnlich: Gravity & Other Myths im Chamäleon Theater

Berlin - Die Bühne ist fast dunkel, als die Show beginnt. Ein Akteur tritt an ein Standmikrofon heran und beginnt etwas über sich zu erzählen. Es ist offensichtlich ernst gemeint, aber auch komisch, was der Mann berichtet. Ein rhetorischer Schwebezustand gewissermaßen. Denkakrobatik. Man hört zu und ist sofort interessiert. Bald folgen ein zweites, ein drittes Mitglied der australischen Zirkuskompanie, bis sie schließlich alle versammelt sind. Jeder an einem Mikrofon, jeder hat etwas zu erzählen, jeder etwas anderes.
Vielstimmiger Chor
Ein vielstimmiger Chor ist quasi aus dem Nichts entstanden. Man versteht die einzelnen Rednerinnen und Redner nicht, aber die Sinfonie ihrer Stimmen ist enorm stark, diszipliniert und voller Spannung, die unausweichlich übergreift auf das Publikum im Saal. Und die Bühne ist immer noch dunkel, voller Geheimnisse. Wer sich hier langweilt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Dann gibt es endlich den fast körperlich erwarteten Schnitt: Licht fällt auf den Arbeitsplatz der Akrobaten, die Mikrofone werden zur Seite getragen, jetzt wird es gleich zur Sache gehen. Aber immer noch in fast schleppendem, aber erkennbar lustvollem Gang, der deshalb keineswegs Unmut, sondern im Gegenteil wachsende Neugier und Vorfreude auf das Kommende schürt.
Ein wohl kalkuliertes Vorgehen, das Spielerische dieser fast erotischen Übung nimmt sich die Mechanismen des Verführens und des Verführt-Werdens zum Vorbild. So bekommst du die Leute - vorausgesetzt, dass alles stimmt: das Licht, der Rhythmus, das Tempo. Hier ist es so.
„Out Of Chaos“ heißt das Programm, das jetzt im privat betriebenen Chamäleon Theater in den Hackeschen Höfen in Berlin-Mitte Premiere feierte und dort noch bis zum Februar des kommenden Jahres zu sehen sein wird. Jeweils für volle sechs Monate werden die Künstler von der Leitung des Hauses verpflichtet, das ist beileibe keine Selbstverständlichkeit in der Branche.
Das bedeutet eine geradezu luxuriöse Sicherheit für die Ausführenden - und stellt natürlich zugleich ein Risiko für die Veranstalter dar: Wenn es nun floppt? Aber die Chefs vom Chamäleon, Anke Politz für das Künstlerische und Hendrik Frobel für das Geschäft einschließlich der Gastronomie, sind Profis. Seit 15 Jahren halten sie sich erfolgreich am Unterhaltungsmarkt.
Die wissen genau, wen sie einkaufen, wen nicht. Und die Akteure wissen, wer sie engagiert hat. Das Chamäleon Theater gehört zu den renommiertesten Häusern, die Neuen Zirkus anbieten. Gravity & Other Myths gehören zu den Besten der Welt in ihrer Sparte. So fügen sich die Dinge fabelhaft zusammen, was man während der gut zweistündigen Show sinnlich erfahren kann. Und darum geht es ja in der Hauptsache: Das Publikum will auf seine Kosten kommen.
„In jeder unserer Performances soll eine vibrierende Spannung generiert werden“, sagt der Regisseur der Truppe aus Adelaide, Darcy Grant. Das ist der Plan. Und er wird faszinierend präzise umgesetzt von der Kompanie, die aus acht Artistinnen und Artisten sowie einem Musiker besteht. Allesamt sind sie großartig - klar erkennbar als Individuen mit völlig verschiedenen Charakteren, die sich in wechselnden Gruppen finden und wieder lösen aus ihnen.
Nichts geht ohne die anderen, alles kann nur gelingen, weil der Einzelne seine Fähigkeit, seinen Willen und einen Vertrauensvorschuss auf die Gruppe in die Produktion einzahlt.
Immerhin wird hier Spitzenakrobatik ohne Netz geboten, die Fallhöhe ist zwar geringer als die aus einer Zirkuskuppel, aber jedenfalls mehr als groß genug, um sich schwer zu verletzen, wenn nur eine der vielen Hände zu spät, daneben oder nicht fest genug greift.
Hohes Können ist hier gefragt und wird geliefert, atemberaubende Spannung sowieso. Manchmal hält man als zart besaiteter Zuschauer schon mal die Hand vor die Augen: Hoffentlich geht das gut!
Bis an die Grenze
Schön ist dabei, dass dann, wenn die „kitzligen“ Stellen heil überstanden sind, keiner der Akteure zu überspielen versucht, dass es bis an die Grenze des Menschmöglichen anstrengend ist, was sie auf der riesigen Bühne des schönen, alten Ballsaales anstellen: Pyramiden und Kerzen aus drei, vier Leibern werden gebaut, man fliegt durch die Luft, als sei das völlig normal für einen Menschen, und wird gefangen - alles atemberaubend schnell, sehr athletisch und oft mit einem Schuss Humor gewürzt.
Was noch auffällt: Frauen und Männer arbeiten hier auf Augenhöhe, die Geschlechter werden zwar nicht geleugnet, aber sie sind in keinem Rollenklischee mehr gefangen - etwa dem der hübschen, spärlich bekleideten Assistentin des großen Hirschs. Sehr schöner Abend.
Gravity & Other Myths: „Out of Chaos“, bis zum 16.2.20, Chamäleon Theater, Berlin, Rosenthaler Str. 40/41
Das Haus im Internet: www.chamaeleonberlin.com