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Astrid Lindgren Astrid Lindgren: Das Glück lebt fort in Bullerbü

Von Christian Eger 13.11.2007, 18:16

Halle/MZ. - Führt Joanne K. Rowlings "Potter"-Werke doch eher als Jugendbücher. Und verzeichnet die Brüder Grimm nicht als eigenständige Autoren, sondern als gestaltende Herausgeber von Märchen aus dem erzählerischen Volksvermögen.

Volksvermögen - das sind die Bücher von Astrid Lindgren längst geworden. Sie waren es bereits vor dem Tod ihrer Autorin, die 2002 im Alter von 94 Jahren starb. Und zwar fast durchweg das komplette Werk: Angefangen bei den frühen Büchern "Pippi Langstrumpf" (1945), "Meisterdetektiv Blomquist" (1946), "Wir Kinder aus Bullerbü" (1947) über "Karlsson vom Dach" (1954), die 1963 begonnene "Michel"-Serie bis hin zu den späten Werken "Die Brüder Löwenherz" (1973) und "Ronja Räubertochter" (1981). Mehr als 150 Millionen Lindgren-Bücher wurden bislang in 94 Sprachen verkauft.

Macht, Kraft, Freiheit

Das ist zwar weniger als die Hälfte der in nur zehn Jahren weltweit verkauften Harry-Potter-Bücher, deren Zahl bei 325 Millionen liegen soll. Aber doch mehr, blickt man auf die bei Rowling ungleich größere Zielgruppe, die ins Erwachsenenlager greift. Die Zahl der Lindgren-Übersetzungen aber fällt um ein Drittel höher aus. Ihre Bücher sind haltbarer, wandlungsfähiger im Genre. Sie haben ein langsameres, aber eindrücklicheres Tempo, eine größere emotionale Tiefe und soziale Schärfe. Astrid Lindgren ist keine Autorin für nur eine Nacht.

Dieser Erfolg hat Gründe. Und er ist von außen her leichter zu erklären als über die Privatfrau Astrid Lindgren, die auch nach ihrem Tod kein öffentliche Person geworden ist. Kinder träumen von Macht, Kraft und Freiheit, genau das hat die zweifache Mutter den Figuren ihrer Bücher gegeben. Das in einer Zeit, in der Gewalt gegen Kinder nicht nur geduldet, sondern erwünscht war. Lindgren wusste, dass Kinder sich für die großen Fragen interessieren: Liebe und Angst, Leben und Tod. Im Gegensatz zu gar nicht wenigen Erwachsenen, die es nicht schaffen, Leben in ihr Erwachsenenleben zu bringen, wollen Kinder nicht vorsätzlich klein und dumm gehalten werden.

Aber was erzählt das über Astrid Lindgren? Darum kreisen denn auch die Bemühungen der aktuellen Lindgren-Forschung: Jene Privatperson freizulegen, die die öffentliche Rolle als Pippi-Langstrumpf-Mutter eben deshalb so gern bediente, weil sie in dieser nicht anwesend war. Ihre Offenheit gegenüber Journalisten täuschte, sagt Lindgrens erste Biografin Margareta Strömstedt. "Sie sagt selbst, sie habe stets das Gefühl gehabt, dass das, was in der Welt draußen mit ihr geschah, nicht ganz wirklich gewesen sei, eigentlich komme es ihr völlig unwesentlich vor."

Biografisches Schweigen

Strömstedts Statement ist in der neuesten, von Maren Gottschalk verfassten Lindgren-Biografie zu finden. "Jenseits von Bullerbü" heißt das Buch. Und der Titel ist Programm. Gottschalk gibt sich viel Mühe, biografische Dunkelheiten aufzuhellen, ohne allerdings auf große Überraschungen zu stoßen. Ein Leseerlebnis beschert das Buch gleichwohl: eindrücklich, anrührend und fair. Die Traurigkeiten ihrer Biografie hatte Lindgren in standardisierten Aussagen umlaufen. Sich selbst "unberührbar" gemacht, wie zu lesen ist. Da ist die Affäre, die Astrid Ericsson als knapp 18-jährige Volontärin mit dem Chefredakteur der Tageszeitung "Wimmerby Tidningen" begann, einem verheirateten Familienvater. Ein in der überschaubaren Herkunftswelt der Autorin tief wirkendes soziales Unglück; Ehebruch wurde noch strafrechtlich geahndet. "Astrid ist in eine Ehe eingebrochen", sagt ihre Freundin Kerstin Kvint. Eine Aussage, die mit Vorsicht zu genießen ist. Im Dezember 1926 wird der Sohn Lars in Stockholm geboren, nicht das einzige außereheliche Kind des Journalisten. Eine Lebensphase, die Lindgren auch gegenüber ihren Freundinnen fortan versiegelt. Lars, der bei Pflegeeltern aufwächst, bleibt das Sorgenkind.

Ur-Pippi kehrt zurück

1931 heiratet die ausgebildete Sekretärin ihren Vorgesetzten, den Direktor des Königlichen Automobilclubs Sture Lindgren. Eine Vernunftehe, auf Freundschaft gegründet. 1934 wird die Tochter Karin geboren, der ihre Mutter das "Pippi"-Buch schreibt. Sture Lindgren, ein Alkoholiker, stirbt 1952. Wer und was da mit ihm ging, bleibt Privatsache. Auch Maren Gottschalk erfährt da nicht viel. Der Sorgensohn, der Alkoholismus des Mannes, die nicht glückliche Ehe. Wer Näheres wissen will, muss warten: 22 Lindgren-Tagebücher aus den frühen 40er Jahren liegen ungeöffnet in Stockholm.

Man muss kein Psychologe sein, um die Linien zu finden, die von der Erwachsenenbiografie Astrid Lindgrens aus zu ihrem Werk führen. Ihre Bücher schrieb sie in Solidarität mit dem Kind, das sie einmal war. Mit ihrem Sohn Lars, der als "unehelich" stigmatisiert wurde. Mit "Bullerbü", ihrer als heil erlebten Herkunftswelt in Smaland. Lindgren wusste immer, was sie tat und schrieb. Berater brauchte sie nicht. Rat erteilte sie ungern. Für wen sie schreibe? "Ich denke nicht an die Kinder. Ich denke überhaupt nur an das Kind in mir selbst."

Wie wahr diese Aussage ist, zeigt die interessanteste Publikation dieser Saison. Als "Ur-Pippi" liegt jenes Manuskript vor, das Astrid Lindgren im April 1944 an den Bonniers-Verlag schickte. Diese Ur-Pippi ist aggressiver, beleidigender (Thomas und Anika nennt sie "kleinkariert"), im Vergleich zur überarbeiteten - und besseren! - Variante tatsächlich gewaltbereit. Mit Vorliebe singt Pippi - dann leider gestrichene - Nonsens-Verse: "Schlaf, Freundchen, schlaf, das Bier ist nämlich leer - nur Schnupftabak gibt's noch mehr". Großartig aber ist der Ton, mit dem Lindgren die Korrespondenz führte. 9. August 1944: "Hiermit möchte ich mich höflichst danach erkundigen, wie lange es eigentlich dauert, bis ein Buch von ihrem Verlag abgelehnt wird." Es sollte ein halbes Jahr dauern, das seit 60 Jahren unter Tränen bereut wird.