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Anna Amalia Bibliothek Anna Amalia Bibliothek: Jahre nach dem Großbrand in Weimar

Von Fabian Wahl 31.08.2010, 10:48
Besucher besichtigen in Weimar den Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. (FOTO: DPA)
Besucher besichtigen in Weimar den Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. (FOTO: DPA) dpa-Zentralbild

Weimar/ddp. - Eigentlich könnte Günter Müller im Garten sitzenund die Seele baumeln lassen. Doch der 71-Jährige repariert Bücher - verkohlte Unikate und verrußte Bände, die dem verheerenden Brand in der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek zum Opfer fielen. Noch heute, sechs Jahre nach der Katastrophe, kämpft er zusammen mit der Klassikerstadt mit den Folgen des größten Bibliotheksbrands nach dem Zweiten Weltkrieg. 50 000 historische Bücher und Notenblätter gingenfür immer verloren, 62 000 weitere wurden teils schwer beschädigt geborgen und werden nun mühsam repariert.

Seine Entwicklung sei präzise wie Medizintechnik, sagt Müllerstolz. «Da wird nichts dem Zufall überlassen.» Seite für Seite nimmter die zerrissenen Bücher auseinander und legt sie inEdelstahlkassetten. Seine Kollegin taucht diese per Knopfdruck zumSäubern in ein Wasserbecken. «Im nächsten Schritt läuft flüssigesPapier auf das Blatt», erklärt Müller. Papierfasern bleiben durcheinen Sog an den angeschmorten Rändern hängen und machen diekostbaren Buchseiten wieder gerade.

Die Werkstatt in einem Weimarer Gewerbegebiet ähnelt einemmodernen Hightech-Labor, Müllers «Patienten» sind dagegenJahrhunderte alt, zum Teil verfasst auf Latein oder Hebräisch.Darunter sind Gelehrtenbücher wie die Historia Judaica von 1651,wertvolle Handschriften und mit Marginalien versehene Druckschriften.«Wir haben eine industrielle Fertigung», sagt Müller. Das Verfahrenhat er selbst entwickelt, die passenden Maschinen dazu entworfen. BeiMillionen von Blättern müsse man zu rationellen Methoden greifen.Anders könne man den Aufwand nicht bewältigen.

«Bis zu 500 Seiten schaffen wir an einem Tag», rechnet der Rentnervor. Doch das ist nur ein winziger Teil von dem, was sich imNebenraum palettenweise stapelt. Wie viele Bücher seit Auftragsbeginnim Mai 2008 die Werkstatt tatsächlich schon repariert verlassenhaben, kann Müller nicht sagen. Es ist eine Mammutaufgabe. Nachseiner Konstruktion gibt es mittlerweile Anfragen aus der ganzenWelt. Auch das Kölner Stadtarchiv, das im März 2009 zusammenbrach undnach Schätzungen den zehnfachen Bücherverlust hinnehmen musste, hatInteresse.

Die Aufsicht über die Weimarer Restaurierungsarbeiten hat MatthiasHageböck. Er sitzt im Bibliotheksgebäude, gegenüber dem prächtigenRokokosaal, der in der Nacht des 2. September 2004 lichterloh inFlammen stand. Hageböck klickt sich durch seine digitaleFotosammlung. «Als ich eintraf, sah man im Dachgeschoss nur nochQualm», berichtet er. Ein Kabelbrand hatte das Feuer entfacht. «EineStunde hatten wir Zeit, um die wichtigsten Bücher zu retten.»Dachbalken stürzten hinunter, Regale kippten zusammen. Dann knistertees nur noch und das Feuer wütete erbarmungslos.

«10 000 Bücher konnten wir unversehrt retten», sagt Hageböck.«Darunter war die sogenannte Lutherbibel, der deutsche Erstdruck desAlten und Neuen Testamentes.» Auch die weltweit größte Faust-Sammlungund die Privatbibliothek von Friedrich Nietzsche (1844-1900) wurdengesichert. Der Rest fiel der Hitze oder den 380 000 LiternLöschwasser zum Opfer. Fast vollständig verbrannt wurde dieMusikaliensammlung der Herzogin Anna Amalia (1739-1807).

In zwölf Werkstätten wurden mittlerweile 25 000 der durchnässtenBücher wieder lesbar gemacht. Für die angebrannten Werke sind alleinMüller und sein junges Team zuständig. Bis 2014 sollen sie 8000 derwichtigsten Werke restaurieren, sagt Hageböck. «Bis dahin reicht dieFinanzierung». «Wir kämpfen um jedes Objekt», fügt Günter Müllerhinzu.

In der Restaurierungswerkstatt für brandgeschädigtes Schriftgut der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar ist ein verbranntes Buch zu sehen. (FOTO: DPA)
In der Restaurierungswerkstatt für brandgeschädigtes Schriftgut der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar ist ein verbranntes Buch zu sehen. (FOTO: DPA)
dpa-Zentralbild