"24 Wochen" von Anne Zohra Berrached "24 Wochen" von Anne Zohra Berrached: Ein Film von großer Wucht
Manche Filmnation hätte jedes Recht dazu, gekränkt zu sein. Nicht nur, dass Produktionen aus, sagen wir, Usbekistan von den Festivals auch mal zu besonders unbekömmlichen Zeiten programmiert werden – und dann lässt mitunter noch das Besucherinteresse zu wünschen übrig.
Reichlich leere Plätze gab es im Pressekino am Sonntag um 9 Uhr bei der Vorführung des portugiesischen Wettbewerbsbeitrags „Cartas da guerra“, der von einem portugiesischen Militärarzt im Jahr 1971 in Angola erzählt, der seiner Frau daheim sehnsüchtige Briefe schreibt, die immer depressiver werden, je länger sich der Kolonialkrieg hinzieht, in dem er dient. Ausgesuchte Schwarz-Weiß-Bilder konkurrieren mit hyperpoetischen Texten; das Ganze hatte etwas vom Meta-Kino eines Terrence Malick, nur ohne dessen All- und Gottesbezug. War es höhere Vernunft von den Kollegen, dafür nicht Frühmorgens aufstehen zu wollen?
Jedenfalls war das Kino um 12 Uhr dann derartig voll, dass keine Spinnweben mehr hineingepasst hätte. Offenbar waren alle neugierig auf den einzigen deutschen Wettbewerbsbeitrag – eben weil es der einzige deutsche Beitrag im Wettbewerb der 66. Berlinale ist. Viel wurde im Vorfeld daran herumgedeutet, ob diese magere Zahl nun ein weiteres Zeichen für den erbärmlichen Zustand des deutschen Films sei. Dazu ist zu sagen: Besser ein deutscher Film von Wucht in der wichtigsten Festivalsektion als vier oder fünf, die einfach nur repräsentieren sollen.
Präzise und komplex
Und ein Film von großer Wucht ist „24 Wochen“, der zweite Spielfilm von Anne Zohra Berrached (nach deren Debüt „Zwei Mütter“, 2013) ohne Zweifel. Ja, der Film ist von dermaßen unmittelbarer Wirkung, dass die Berichterstatterin während der Vorführung in Tränen ausbrach und sich auch nach dem Verlassen des Kinos nur schwer wieder fangen konnte – wiewohl sie persönlich nie betroffen war von dem Thema, dass in „24 Wochen“ verhandelt wird, dies sehr präzise und komplex.
Erzählt wird von einem noch jungen Paar, dass sein zweites Kind erwartet. Astrid Lorenz ist eine beliebte Kabarettistin und im sechsten Monat schwanger, als sich bei einer Untersuchung herausstellt, dass das Baby mit Down-Syndrom geboren werden wird. Das ist nicht unbedingt eine tolle Nachricht, aber nach dem ersten Schock sind die Eltern bald guten Willens, den neuen Erdenbürger herzlich zu begrüßen in der Familie. Die eigene latente Unsicherheit wird indes von einer Umwelt genährt, in der nicht jeder begeistert ist von dieser bewussten Entscheidung für ein behindertes Kind.
Nach einem Besuch bei den doch so lieben und dabei putzmunteren „Downies“ von der Theatergruppe Rambazamba findet die achtjährige Schwester in spe „Downies“ dennoch „eklig“, und auch das Kindermädchen wirft hin, worauf Astrid die junge Frau als „Fascho“ beschimpft.
Ein radikaler Film
Ungeachtet dieser Konflikte bleibt bis hierhin doch alles im Rahmen des Lösbaren. Die Regisseurin mutet ihren Protagonisten indes noch weit mehr zu – nämlich zu viel. Bei einer weiteren Untersuchung stellt sich heraus, dass das Ungeborene zudem einen schweren Herzfehler hat und schon eine Woche nach der Geburt operiert werden müsste, danach noch mehrfach. Die Frage nach einer Spätabtreibung stellt sich, die der Gesetzgeber in solchen Fällen gestattet. Und auch der in „24 Wochen“ konsultierte Professor weist darauf hin, dass ein mehrfach behindertes Kind eine lebenslange schwere Aufgabe sei.
Die Eltern müssen also eine Entscheidung treffen, deren Tragweite sie überhaupt nicht überschauen können – und die in jeden Fall eine Bürde bedeutet. Und dieses Ringen von Astrid und Markus mit der Überforderung, ihr Leiden dürfte für jeden Zuschauer, der weiß, was Mitgefühl bedeutet, schwer auszuhalten sein. Geschickt verstärkt sich im Film nach einem Drehbuch von Carl Gerber der Druck immer mehr. Schließlich ist Astrid ja eine Person des öffentlichen Lebens, deren Zustand keine Privatheit zugebilligt wird, die aber letztlich allein bleiben muss – es ist ihr Körper.
Ohne Astrid zur Tragödin zu machen, spielt Julia Jentsch diese Frau mit großem Mut zum Risiko. Bjarne Mädel erlöst sich mit der Rolle des optimistischen, aber auch fragilen Ehemanns selbst vom schlichten Image, das ihm seit den Fernsehserien „Tatortreiniger“ und „Mord mit Aussicht“ anhaftet. Die Bilder des Kameramanns Friede Clausz glühen vor Anspannung.
Und die aus Erfurt stammende Anne Zohra Berrached tritt mit ihrer zutiefst humanistischen Inszenierung das Erbe von DEFA-Regisseuren wie Lothar Warneke oder Heiner Carow an, gewiss ohne dass sie es beabsichtigt hätte. „24 Wochen“ erwischt einen tief drinnen, weil es ein radikaler Film ist, der sich dorthin begibt, wo andere abblenden – in die dunkle Einsamkeit einer existenziellen Entscheidung.
Das war ein fulminanter Auftritt für den deutschen Film – ein hochinteressantes Solo. Überzeugen konnte auch der Italiener Gian-franco Rosi mit seiner Regiearbeit „Fuocoammare“. 2013 hat Rosi für den Dokumentarfilm „Sacro GRA“ den Goldenen Löwen von Venedig gewonnen. Sein neuer Film führt den Zuschauer auf die Insel Lampedusa, wo der Regisseur einige Einwohner ein Jahr lang begleitet. Darunter den zwölfjährigen Samuele, der als energischer Hypochonder beim Arzt die Herzen gewinnt.
Jener Arzt ist auch dafür zuständig, die toten Flüchtlinge zu obduzieren, die aus den Schiffsbäuchen geborgen werden. Er muss die Nabelschnüre durchschneiden, die oft genug noch tote Neugeborene mit ihren verstorbenen Müttern verbinden, aber wir sehen den Doktor auch bei der Ultraschalluntersuchung einer mit Zwillingen hochschwangeren Afrikanerin – wie er sich rührend bemüht, das Geschlecht der Föten zu bestimmen, also Individualität zu wahren. Ohne jede Skandalisierung etabliert Rosi eine unbequeme Wahrheit: Dass ein Leben angesichts des größten Dramas auch parallel verlaufen kann, ohne davon berührt zu sein.
24 Wochen: 15. 2.: 10 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, sowie 12.15 Uhr, Friedrichstadt-Palast, und 18 Uhr, Zoo Palast; 16. 2.: 21.30 Uhr, Neue Kammerspiele; 21. 2.: 22 Uhr, Haus d. Berliner Festspiele
Fuocoammare: 21. 2.: 17.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele