Unartiges Volk 17. Juni 1953 - als in der DDR das Fass des Unmuts überlief
Wie der Schriftsteller Kurt Barthel die Arbeiter nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 belehrte - und was ihm der Dichter Bertolt Brecht antwortete.

Halle (Saale) - Ein „faschistischer Putsch“ sei das gewesen, lernten die Schulkinder in der DDR. Die Älteren murmelten etwas anderes, oft mit einer Verwünschung auf den „Spitzbart“ Walter Ulbricht gewürzt. Nach der Zeitenwende vom Herbst 1989, als das Volk sein „Wir“ entdeckt und die SED-Herrschaft auf den Straßen abgewählt hatte, war dann vom Volksaufstand die Rede. Gemeint ist der 17. Juni 1953, dessen Unruhen mehr als einen Tag lang währten - nicht nur in Ostberlin, sondern landesweit, darunter in Bitterfeld, Halle und Merseburg.
Auslöser der Streiks und Demonstrationen, die durch den Einsatz sowjetischer Panzer erstickt wurden, waren die schlechten Lebensverhältnisse der angeblich herrschenden Klasse und angekündigte Normerhöhungen. Letztere sollten in letzter Minute noch zurückgenommen werden. Aber das Fass des Unmuts war schon übergelaufen.
Richtig ist freilich auch, dass viele Menschen in der DDR aus dem Beschluss der alliierten Siegermächte, Deutschland in Besatzungszonen aufzuteilen, keine Begeisterung ableiteten, einen Sozialismus Stalinscher Prägung aufzubauen. Schließlich war die deutsche Bevölkerung ja nicht durch Sektoren- oder Staatsgrenzen geteilt, wie man den Ostlern weismachen wollte: Im Westen lebten demnach die alten Nazis, Blockwarte, Hitlerjungen, Gestapospitzel - im Osten hingegen die Guten, die Tag und Nacht die Schriften von Lenin studierten und in der Sowjetunion das Paradies auf Erden erkannten.
Hinzu kamen auch in der DDR eine Vielzahl von Vertriebenen aus den ehemals deutsch besiedelten Gebieten im Osten und die traumatisierten, aus der Gefangenschaft entlassenen Weltkrieger. Auch wenn sich wohl alle nach einer Zukunft in Frieden sehnten - hinter der roten Fahne der Kommunisten waren sie deswegen noch längst nicht vereint.
Bertolt Brecht antwortet mit Gedicht auf Barthels Kritik
Nach der Niederschlagung des Aufstands zog der Schriftsteller und Funktionär Kurt Barthel, der sich KuBa nannte, der unartigen Arbeiterschaft mit Hilfe der Zeitung „Neues Deutschland“ die Ohren lang: „Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern und künftig sehr klug handeln müssen, ehe euch diese Schmach vergessen wird. Zerstörte Häuser reparieren, das ist leicht. Zerstörtes Vertrauen wieder aufrichten ist sehr, sehr schwer.“
Bertolt Brecht (1898-1956) antwortete mit seinem Gedicht „Die Lösung“, enthalten in der Sammlung „Buckower Elegien“. Der Text, von ihm selbst zu Lebzeiten nicht veröffentlicht, erschien zuerst im Westen, 1969, auf Druck der Brecht-Witwe Helene Weigel, auch in der DDR. Darin polemisiert der Dichter gegen die perfide Logik von Barthel: „Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“
Scharf gedacht - und scheinbar wie geschaffen dafür, um Jahrzehnte später selbst ernannten „Querdenkern“ als Munition gegen die Regierung zu dienen. Immerhin schreckten sie auch nicht davor zurück, sich mit Judensternen als Opfer zu stilisieren. Aber auf den Kommunisten Brecht sind die radikalen Gegner der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wohl nicht gekommen. Es wäre auch nur eine geschmacklose Verdrehung der Wahrheit mehr gewesen.
1953 wehrten sich Hunderttausende gegen eine neuerliche Diktatur. Zuletzt ging es in einer Demokratie um die Unbequemlichkeit, mit der es verbunden sein kann, Leben zu schützen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. (mz)