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1. Weltkrieg 1. Weltkrieg: Die «Urkatastrophe» wird neu beleuchtet

Von Thomas Borchert 27.07.2004, 09:47
Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916). Bei der Schlacht starben von Februar bis Dezember 1916 rund 700 000 Menschen. (Foto: dpa)
Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916). Bei der Schlacht starben von Februar bis Dezember 1916 rund 700 000 Menschen. (Foto: dpa) AFP/epa

Hamburg/dpa. - Mit Hurra in den Krieg ziehen wollte vor 90 Jahrender Münchner Student Andreas Willmer: «Auch für mich gibt es nun keinHalten mehr», schreibt er am Abend des 1. August 1914 seiner Mutter.Dass die große Mehrheit unter den Deutschen die Kriegsbegeisterungdes Akademikers geteilt habe, wird im sehr lesenswerten Sammelband«Der 1. Weltkrieg - Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts» alszäher Mythos dargestellt, bei dem Historiker bis heute denPropagandainteressen der damals Mächtigen aufgesessen seien. InArbeiterfamilien habe nackte Existenzangst und auf dem Landeebenfalls düstere Stimmung vorgeherrscht.

Willmer schrieb ein Vierteljahr nach Ausbruch von einemSchlachtfeld in Flandern: «Jetzt sitze ich hier, von Grauengeschüttelt.» Einen Monat später heißt es im letzten Brief: «DieHölle konnte nicht schlimmer sein.» Der Student stirbt zu Beginn desvierjährigen Gemetzels mit acht Millionen Toten.

Zum 90. Jahrestag des Kriegsausbruchs am 1. August ist eine Fülleneuer Bücher erschienen, in denen Gesamtdarstellungen versucht,Ursachenforschung betrieben und Einzelaspekte beleuchtet werden. Alserweiterte Buchfassung einer Serie im «Spiegel» sticht dabei «Der 1.Weltkrieg - Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts» mit einer sehrinformativen, gut lesbaren und umfassenden Sammlung von Analysen,Berichten und Hintergründen heraus. Wer statt dieser journalistischenAufarbeitung von Geschichtsschreibung die kompakte historischeDarstellung bevorzugt, kann auf die neue «Kurze Geschichte des ErstenWeltkrieges» des Briten Michael Howard zurückgreifen.

Das von Verlagen, TV-Anstalten und anderen Medien übereinstimmendnotierte große Interesse am 90. Jahrestag des Kriegsausbruchs hateine Ursache sicher in der gehäuften Konfrontation mit aktuellenKriegen etwa auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak. Eineneigenwilligen Beitrag zur Verknüpfung des 1. Weltkriegs mit aktuellenKonflikten liefert der Publizist Jürgen Busche mit seiner«Heldenprüfung», in der er Heldenhaftes an Taten sechs berühmterdeutscher Kriegsteilnehmer 1914-1918 herauszuarbeiten versucht, unterihnen Ernst Jünger, Erwin Rommel und Ernst Udet. Busche begründetesein Buch selbst damit, dass «die deutsche Geschichte mehr als einhalbes Jahrhundert nach dem Ende des letzten Krieges wieder denEinsatz deutscher Soldaten unter Kriegsbedingungen zu verzeichnenhat». Ein Rezensent der «Zeit» empfand Busches Sammlung eher als«Gruselkabinett» und plädierte für die Beibehaltung der «wohltuendnüchternen Skepsis» hierzulande gegenüber Helden.

Ganz und gar nichts Heldenhaftes schildert der bei der DVA neuaufgelegte Roman «Heeresbericht» von Edlef Köppen aus dem Jahr 1930.Der 1939 gestorbene Autor lässt den begeistert in den Krieg ziehendenStudenten Adolf Reisiger das Gemetzel als «befohlenen Mord»durchleben. Literarisch anspruchsvoll und sprachlich verblüffendmodern schildert Köppen unter anderem das Grauen von Gasangriffen.

Eine aufregende historische Neuerscheinung ist das Mammutwerk«Deutsche Kriegsgreuel 1914» der britischen Historiker John Horne undAlan Kramer über Kriegsverbrechen bei der Besetzung Belgiens. DieAutoren belegen detailliert systematische Massaker an derZivilbevölkerung des neutralen Landes, schildern den Propagandakriegder Kriegsgegner darüber und bejahen auch einen Zusammenhang zwischendem deutschen Verhalten in Belgien und dem «Vernichtungskrieg» desZweiten Weltkrieges an der Ostfront.

Zum Thema Propagandakrieg hat der Piper Verlag den reichbebilderten Band «Der Erste Weltkrieg - Wahrheit und Lüge in Bildernund Texten» von Brigitte Hamann herausgebracht. Der gewaltige Abrundzwischen Propagandalüge und Realität zeigt sich Seite um Seite biszuletzt, als Kaiser Wilhelm noch nach der deutschen Niederlage mit1,8 Millionen Toten auf einer Kitschpostkarte mit den Worten «Ichhabe es nicht gewollt» abgebildet wird. Danach zog der abgedankteKaiser sich ins niederländische Exil zurück, hackte wie besessen Holzund dachte 1927 öffentlich darüber nach, ob nicht Gas zur Beseitigungder «Judenpest» das Beste sei.

Ein Freiwilliger im August 1914 in Leipzig neben einem geschmückten Zug mit der Aufschrift «nach Paris!», der Truppen an die Westfront bringen soll. (Archivfoto: dpa)
Ein Freiwilliger im August 1914 in Leipzig neben einem geschmückten Zug mit der Aufschrift «nach Paris!», der Truppen an die Westfront bringen soll. (Archivfoto: dpa)
dpa