Zwei Jahre nach dem Fabrikeinsturz in Bangladesch Zwei Jahre nach dem Fabrikeinsturz in Bangladesch: Was sich seit dem Fabrikeinsturz für die Näherinnen geändert hat

Dhaka - Runa Akhter rennt um ihr Leben, doch plötzlich gibt der Boden unter ihren Füßen nach. Sie stürmt Richtung Treppenhaus, als das Gebäude immer stärker vibriert, will hinaus ins Freie. Doch dann fällt die 25-jährige ins Nichts, verliert das Bewusstsein. Als sie wieder erwacht, ist es finster, alles schmerzt. Der Mund ist voll Staub, die Beine kann sie nicht bewegen. Die junge Frau ruft, tastet. Sie ist halb verschüttet unter Geröll und Nähmaschinen, neben ihr liegt jemand, der wimmert. Stunden später kann sie sich selbst befreien und aus den Trümmern kriechen. Sie steht auf dem Hof – erst später realisiert sie, dass sie sieben Stockwerke in die Tiefe gefallen ist.
Firmen bangen um Aufträge
Mitte April jährt sich der Einsturz des Rana-Plaza-Komplexes in der Nähe von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, zum zweiten Mal. Am 24. April 2013 kamen bei der Katastrophe 1127 Menschen ums Leben, fast 2500 wurden zum Teil schwer verletzt.
Der Kollaps, ausgelöst durch Baupfusch und eine völlige Überlastung des Gebäudes, hat nicht nur in der westlichen Welt eine heftige Debatte über die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie Asiens ausgelöst. Auch in Bangladesch gerieten Politiker und Unternehmen unter Druck und konnten nicht wie sonst zur Tagesordnung übergehen. Tatsächlich hat sich inzwischen viel getan, um die Sicherheit in den Textilfabriken zu verbessern und fairere Bedingungen für die Beschäftigten zu erreichen.
Atiqul Islam, der eloquente Chef des mächtigen Textilverbandes BGMEA, versucht erst gar nicht, irgendetwas schönzureden. „Bis Rana Plaza war die Verantwortung der Unternehmen für die Mitarbeiter hier kein Thema“, gibt er zu. „Brandschutztüren? Wir wussten nicht einmal, was das genau ist“, räumt er ein. Doch Rana Plaza sei der Weckruf gewesen. „Die internationalen Käufer haben uns klar gemacht, dass sie selbst ein Image-Problem bekommen und sich ein anderes Produktionsland suchen, wenn wir hier nichts ändern“, berichtet er.
Das hätte Bangladesch schwer getroffen, denn das Land lebt von der Bekleidungsindustrie. Bangladesch ist nach China der zweitgrößte Exporteur von Textilien weltweit, fast vier Millionen Menschen arbeiten in der Branche, überwiegend Frauen. Viele bekannte Unternehmen lassen hier produzieren, von Lidl und Aldi über H&M, GAP, C&A bis Adidas und Abercrombie & Fitch. Millionen Familien sind auf die Einkünfte der Näherinnen angewiesen, die in landesweit 5 000 Fabriken arbeiten.
„Die Unternehmer in Bangladesch haben verstanden, dass es um ihr eigenes Überleben geht“, sagt Magnus Schmid von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Die staatliche deutsche Entwicklungsorganisation hilft Herstellern dabei, Sicherheits- und Sozialstands zu erfüllen.
Die Regierung hat gehandelt
In einem ersten Schritt unterwarfen sich Produzenten Kontrollen der internationalen Ketten und Marken: Die europäischen Firmen schlossen sich zur Arbeitsgemeinschaft Accord zusammen, die internationale Expertenteams bisher in mehr als 1 000 Fabriken geschickt hat, um die Gebäudesicherheit zu überprüfen. Ähnlich arbeitet die Organisation Alliance, an der Einkäufer aus den USA und Kanada beteiligt sind. Sie haben bisher fast 600 Fabriken überprüft. Die klare Ansage beider Verbünde: Wer Mängel nicht beseitigt, wird von der Liste der Zulieferer gestrichen.
Betriebe geschlossen: Seit dem Fabrikeinsturz in Bangladesch mit 1.127 Todesopfern im April 2013 sind nach Branchenangaben mehr als 200 Textilfabriken geschlossen worden. Zu den Ursachen gehörten Verstöße gegen Vorschriften, Proteste der Arbeiter und zu wenig Aufträge, erklärte der Verband der Textilfabrikanten und -exporteure in Dhaka bereits im vergangenen Jahr.
Menschen entlassen: Geschlossen worden seien meist Betriebe mit wenigen Hundert Arbeitern. Über 100.000 Menschen seien entlassen worden. Dem Bund der Textilarbeiter zufolge waren etwa 20 Prozent davon Ende vorigen Jahres noch arbeitslos. 65 Prozent hätten einen neuen Job in der Textilbranche gefunden, fünf Prozent die Branche gewechselt, zehn Prozent seien in ihre Dörfer zurückgekehrt.
Dass es die westlichen Hersteller diesmal ernst meinen, hat Obaidul Ahsan erlebt. Er ist Direktor des Textilunternehmens Chaity im Stadtteil Uttara im Nordwesten von Dhaka. 34 zum Teil gravierende Mängel fanden die Sicherheitsexperten in der Fabrik, die für Lidl, Zara und Carrefour produziert: Die Pfeiler in dem mehrstöckigen Gebäude waren viel zu schmal, Notausgänge versperrt, Brandschutztüren fehlten. Mit Unterstützung der GIZ hat Ahsan den Großteil der Schwachstellen für umgerechnet 200.000 Euro beseitigen lassen. Dabei wurden nicht nur die Pfeiler verstärkt, sondern auch der schwere Strom-Generator und der Dampf-Erzeuger für die Bügeleisen in Gebäudeteile im Erdgeschoss ausgelagert. „Meine Kunden haben mir klipp und klar gesagt, dass ich ansonsten die Aufträge verliere“, sagt Firmenchef Ahsan.
Auch die Regierung hat gehandelt. Zahlreiche Fabriken wurden nach der Katastrophe von Rana Plaza geschlossen. Gab es bisher landesweit nur 19 Sicherheitskontrolleure, sollen es künftig über 200 sein, für die die GIZ mit deutschen Steuergeldern die Ausbildung organisiert. Per Gesetz wurde zudem die Zulassung von Gewerkschaften vereinfacht, was zur Gründung von über 200 neuen Organisationen geführt hat. In vielen Firmen gibt es inzwischen sogar eine Art Betriebsrat. Der Mindestlohn stieg von umgerechnet 30 Euro monatlich auf 50 Euro, die Arbeitszeiten wurden beschränkt. „Die Einhaltung der Sozialstandards ist im Großen und Ganzen kein Problem mehr“, bestätigt Srinivas Reddy, Landeschef der Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO): „Rana Plaza war der Wendepunkt.“
Aber haben sich die Arbeitsbedingungen der Näherinnen tatsächlich verbessert? In der Chaity-Fabrik kann der Besucher aus Deutschland ohne Aufpasser der Firmenleitung mit Mitarbeiterinnen sprechen. Khadija Begum setzt ihre Schutzmaske ab, hält die Nähmaschine an. Neben ihr liegt ein Stapel halbfertiger Kinderhosen für H&M. Seit zweieinhalb Jahren arbeite sie in der Firma und sei sehr zufrieden, sagt die 25-Jährige.
In der Regel dauert die Schicht von 8 bis 19 Uhr, darin ist eine Stunde Mittagspause enthalten sowie die zwei gesetzlich erlaubten Überstunden, die extra bezahlt werden. 20 Tage im Jahr gibt es bezahlten Urlaub. Bis zu 9000 Taka – etwa 100 Euro – verdient sie. Auch die 19-jährige Shuma, erst seit zwei Tagen in der Fabrik, bekommt mit umgerechnet 80 Euro deutlich mehr als den Mindestlohn. „Das ist okay, durch den Wechsel der Firma konnte ich etwas mehr rausschlagen“, sagt sie und macht sich an die nächste Naht.
„Die Näherinnen kennen inzwischen ihre Rechte sehr genau. Da ich ständig Arbeitskräfte suche, kann ich es mir gar nicht leisten, die Gesetze nicht einzuhalten“, sagt ein Fabrikbesitzer bei einem abendlichen Empfang in Dhaka. „Ich kann nicht einmal den Lohn einige Tage später zahlen, dann gibt es schon Proteste“, klagt er. „Gut so“, freut sich Gewerkschaftsführerin Nazma Akter. Auch sie sagt, es komme immer seltener vor, dass Arbeitgeber zu niedrige Löhne zahlen oder die Arbeitszeiten überziehen. Auch Kinderarbeit sei kein Thema mehr.
Illegale Subunternehmen
Also alles in Ordnung? Mitnichten. Im Fokus stehen derzeit vor allem die 2 000 Firmen, die offiziell registriert sind und direkt mit internationalen Ketten oder Marken Verträge abschließen. Diese Unternehmen geben jedoch immer wieder Aufträge aus Kosten- und Kapazitätsgründen an Subunternehmen weiter. Dabei handelt es sich nicht selten um illegale Firmen, von denen es schätzungsweise 1 500 in Bangladesch gibt und wo sich niemand um die Einhaltung von Arbeitsschutz- oder Sozialnormen schert. „Wir haben es immer noch mit einem sehr intransparenten System zu tun“, beklagt GIZ-Beauftragter Schmid. Zwar lassen sich die Auftraggeber in der Regel zusichern, dass keine Subfirmen beauftragt werden. Das sei aber kaum zu kontrollieren.
Zumindest eines kristallisiert sich nach Gesprächen in Bangladesch heraus: Selbst wenn Billig-Ketten mit ihren geprüften Produzenten werben, besteht doch die Gefahr, dass das Billig-Shirt für 3,50 Euro in Wahrheit unter unwürdigen Umständen in irgendeiner Hinterhausfabrik genäht wird.
Runa Akhter, die Überlebende, hat damit nichts mehr zu tun. Sie musste nach der Katastrophe ihren Job als Näherin aufgeben. „Ich traue mich bis heute nicht, hohe Gebäude zu betreten“, erzählt sie. In einer Umschulung, unterstützt mit staatlichen Mitteln aus Deutschland, hat sie gelernt, wie man ein eigenes Geschäft führt. Einrichtung und Erstausstattung wurden ebenfalls über das Projekt finanziert. Seit einigen Monaten läuft der kleine Lebensmittelladen: „Als ich verschüttet war, habe ich nicht geglaubt, jemals wieder lebend herauszukommen“, sagt sie: „Jetzt bin ich glücklich.“
