Wulf Gallert über Wirtschaftswachstum in Sachsen-Anhalt Wulf Gallert über Wirtschaftswachstum in Sachsen-Anhalt: "Niedriglohn-Image schreckt Investoren und Arbeitnehmer ab"

Halle (Saale) - Sachsen-Anhalt liegt beim Wirtschaftswachstum mit einem Plus von 0,4 Prozent bundesweit an letzter Stelle. Darüber hat sich eine Debatte entwickelt. Oliver Holtemöller, Vize-Präsident des Institutes für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), nannte in einem Beitrag für die MZ Defizite bei Bildung und Forschung, Internationalität und Innovation als Ursachen. Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) widersprach. Das Land habe sich seit 1990 positiv entwickelt. Beim Bruttoinlandsprodukt liege es mit mehr als 55 000 Euro pro Kopf unter den ostdeutschen Flächenländern an zweiter Stelle. Der Ex-Hauptgeschäftsführer der IHK Halle-Dessau, Peter Heimann, sieht die Kaufkraft der Sachsen-Anhalter sogar fast auf Westniveau. SPD-Landeschefin Katrin Budde hält die wirtschaftlichen Potenziale für nicht ausreichend genutzt. Und Wulf Gallert, Fraktionschef der Linken, beklagt, dass innovative Investoren und qualifizierte Arbeitnehmer abgeschreckt werden.
Wollen wir in Sachsen-Anhalt die strukturelle Wachstumsschwäche im Bereich der Wirtschaft beheben, müssen wir uns zuerst die realen Daten ansehen und haben die Dramatik gleich vor Augen: Während seit 2005 die Wirtschaft in der gesamten Bundesrepublik um knapp 18 Prozent und in den anderen ostdeutschen Bundesländern um etwa 9,5 Prozent gewachsen ist, sind es in Sachsen-Anhalt 2,5 Prozent. Dagegen steht bereits seit 2001 die zweithöchste Arbeitsproduktivität im Osten, allerdings als Folge der Großinvestitionen der 90er Jahre im Chemiedreieck. Das Durchschnitts-Arbeitseinkommen ist nach wie vor das zweitniedrigste bundesweit.
Wir reden also über ein Problem, das sich nicht mit ostdeutschen Besonderheiten der Wirtschaftsstruktur erklären lässt, nicht mit einer sechswöchigen Pause der Leuna-Raffinerie und auch nicht mit einem seit kurzem im Amt befindlichen, sichtlich gelangweilten Wirtschaftsminister.
Allerdings legen die genannten Zahlen ein schwerwiegendes landespolitisches Defizit offen. Sonst wäre nicht zu erklären, dass uns bei der wirtschaftlichen Entwicklung inzwischen auch Mecklenburg-Vorpommern abhängt.
Niedriglohn-Image schreckt ab
Die Ursachen sind komplex und wirken langfristig. Dazu gehört das von der Politik bediente Niedriglohn-Image, das innovative Investoren und qualifizierte Arbeitnehmer abschreckt. Dieses Image klebt uns wie ein alter Kaugummi am Schuh. Was zählen die Sonntagsreden des Ministerpräsidenten über höhere Löhne, wenn kürzlich ein von der landeseigenen Marketing-Gesellschaft beauftragter niederländischer Investorenwerber stolz in die Kamera sagt, dass Niedriglöhne für unser Land der entscheidende Standortvorteil sind und wenn Unternehmen, die Arbeitnehmerinteressen ignorieren, Fördermittel bekommen?
Zudem fehlt der Wirtschaftsförderung in Sachsen-Anhalt eine Innovationsstrategie. Die öffentlichen Ausgaben für Forschung liegen etwa im Schnitt der ostdeutschen Bundesländer, diese Ergebnisse werden aber nicht in die kleinteilige Wirtschaftsstruktur des Landes übertragen. Ein Großteil unserer Unternehmen hat durch ihre Kleinteiligkeit nicht die Ressourcen, Innovation von Produktentwicklung bis zur Vermarktung selbst zu gestalten. In diesem Bereich hat die Landesregierung Fehler gemacht: Die Patentförderung wurde eingestellt, Zuschüsse für Fachkräfte, die in den Unternehmen Innovation voranbringen, zwischenzeitlich gestrichen.
Man muss fairerweise sagen, dass die ehemalige CDU-Ministerin Birgitta Wolf dieses Defizit erkannte. Von der Koalition und den Wirtschaftsverbänden bekam sie jedoch keine ausreichende Unterstützung für ihre Innovationsstrategie.
Hiesige Unternehmen stärken
Kluge Wirtschaftspolitik muss primär die hiesigen Unternehmen stärken, statt verlängerte Werkbänke großer Unternehmen außerhalb Sachsen-Anhalts zu subventionieren. In der Landwirtschaft findet diese Entwicklung seit einigen Jahren statt: Agrargenossenschaften haben inzwischen vielfach eine Stärke erreicht, die Innovation ermöglicht. Paradoxerweise will die Landesregierung diese Unternehmen durch ein Agrarstrukturgesetz aus ideologischen Gründen ausbremsen. An dieser Stelle präferiert sie stattdessen kleine Einzelunternehmen, deren Problem darin besteht, kaum Ressourcen für Innovationen zu besitzen.
Eine Landesregierung muss Wirtschaftsentwicklung letztlich stärker über die Bereiche steuern, für die sie originär zuständig ist: Bildung, öffentliche Sicherheit, Kultur und soziale Stabilität sind stärkere Faktoren als Förderschecks. Es sind qualifizierte und innovative Menschen, die das Land verlassen, wenn die Infrastruktur nicht mehr stimmt. 2014 wuchs in allen Bundesländern die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse, nur in Sachsen-Anhalt wurden es 6.400 weniger.
In Harzgerode bei einem großen Metall-Verarbeiter bekam ich als wichtigsten Wunsch an die Politik zu hören: „Erhalten Sie unsere Sekundarschule im Ort, von dort kommen unsere Lehrlinge.“ Die Schule kämpft mit der verordneten Mindestschülerzahl. Das Land hat zu wenig Lehrer eingestellt, um auch kleinere Schulstandorte zu erhalten.
Insofern ist die permanente Infragestellung von wichtigen Strukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge neben der Billiglohnstrategie und der fehlenden Innovation das wirkliche Problem des Landes. (mz)