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Trotz Bekämfung Trotz Bekämfung: Die Zahl der Hungernden weltweit steigt

Von Stefan Sauer 12.10.2017, 13:56
Ein unterernährter Junge in Mali. Unicef warnt: Wegen anhaltender Gewalt hat die Mangelernährung von Kindern in dem Gebiet zugenommen.
Ein unterernährter Junge in Mali. Unicef warnt: Wegen anhaltender Gewalt hat die Mangelernährung von Kindern in dem Gebiet zugenommen. Unicef

Berlin - Der Hunger ist wieder auf dem Vormarsch. Erstmals seit vielen Jahren nahm die Zahl der weltweit hungernden Menschen 2016 deutlich zu. Nach einem Rückgang von 1,01 Milliarden auf 777 Millionen im Zeitraum zwischen 1990 und 2015 wurden 2016 weltweit rund 815 Millionen Hungernde registriert. Hinzu kommen akute Krisensituationen vor allem in Ost- und Zentralafrika sowie im Jemen, durch die nach Schätzungen der UN die Ernährungssicherheit für 23 Millionen Menschen stark gefährdet ist. Das UN-Ziel, den Hunger bis 2030 weltweit zu besiegen, rückt damit in weite Ferne.

Fortschritte bei der Hungerbekämpfung

Gleichwohl ging der Welthunger-Index, den das internationale Forschungsinstitut IFPRI und die Welthungerhilfe gemeinsam am Donnerstag in Berlin vorstellten, auch 2016 leicht zurück. Grund sind beträchtliche Fortschritte in der Hungerbekämpfung in anderen Teilen der Welt. Der Index, den die Welthungerhilfe für insgesamt 119 Länder ermittelt, reflektiert nämlich nicht einfach die Zahl der Hungernden. In die Länderwerte Wert fließen neben den von Hunger betroffenen Bevölkerungsanteilen auch die von Auszehrung und Wachstumsverzögerungen betroffenen Kinder sowie die Sterblichkeitsrate von unter Fünfjährigen ein.

58 Prozent der Zentralafrikanischen Republik unterernährt

Das Bild, das sich hieraus ergibt, ist sehr uneinheitlich. Während der Hungerindex in 14 Staaten, darunter China, Senegal, Brasilien und Peru, seit dem Jahr 2000 um mehr als 50 Prozent abnahm und auch weltweit mit einem Rückgang um 27 Prozent beträchtliche Fortschritte erzielt werden konnten, verbesserte sich die Situation in Teilen Afrikas und Südasiens nur wenig oder gar nicht. Dies trifft insbesondere auf die Zentralafrikanische Republik zu. Mit einem Anteil von 58 Prozent unterernährter Menschen an der Gesamtbevölkerung belegt das Land den untersten Platz im Index. Es ist das einzige, in dem der Indexwert über 50 Punkten liegt, der Nahrungsmangel als „gravierend“ eingestuft wird und in dem seit der Jahrtausendwende keine messbaren Verbesserungen registriert wurden.

 In Tschad, Liberia, Madagaskar, Sierra Leone, Sambia, Sudan und Jemen gilt die Hungersituation 2016 als „sehr ernst“ und auch in diesen Ländern ging der Hunger seit 2000 in geringerem Umfang zurück als in den meisten anderen Regionen der Welt. Hinzu kommen 13 Staaten, für die keine Daten vorliegen und die daher nicht gelistet werden konnten. In neun von ihnen ist die Lage nach Einschätzung der Welthungerhilfe als mindestens ernst zu bezeichnen. Dies gilt etwa für den Südsudan, Somalia, Eritrea, Libyen und Syrien.

Dabei können selbst in Staaten, die den Hunger spürbar zurückdrängen konnten, Millionen Menschen von Unterernährung betroffen sein. Nigeria ist ein Beispiel. Dort sank der Anteil der hungernden Bevölkerung zwischen 1992 und 2016 von über 16 auf unter acht Prozent, die Kindersterblichkeit ging deutlich zurück und der Hungerindex für das bevölkerungsreichste Land Afrikas halbierte sich auf einen Wert von 25,5. Gleichwohl sind rund 4,5 Millionen Menschen im Norden des Landes akut von Hunger betroffen, wofür der Terror islamistischen Boko Haram und deren  bewaffnete Auseinandersetzungen mit  nigerianischen Streitkräften wesentlich verantwortlich sind.

So kommt zu enormen Entwicklungsunterschieden innerhalb des 180-Millionen-Landes: In einigen Landesteilen liegt der Wert für mangelbedingte Wachstumsverzögerungen von Kindern bei einem Wert von 7,7 und damit auf dem Niveau von Serbien, Mexiko oder Thailand. Im Norden dagegen erreicht der Indexwert rund 64 Punkte – ein Spitzenwert im internationalen Vergleich, der nur in rückständigen Regionen Guatemalas und Afghanistans deutlich übertroffen wird.

Die Ursachen des Hungers

Das nigerianische Beispiel verweist auf wesentliche Ursachen des Hungers weltweit: Kriege, Bürgerkriege und gewaltsame Auseinandersetzungen  zählen neben den Folgen des Klimawandels und zunehmender Naturkatastrophen zu den Hauptverursachern des mangelhafter Nahrungsmittelversorgung. Im aktuellen Hungerindex-Bericht  betont die Welthungerhilfe  aber vor allem wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zwischen und innerhalb der Staaten: „Wir sehen eine himmelschreiende Ungleichheit, die für den Hunger ganz wesentlich verantwortlich ist“, sagt Welthungerhilfe-Präsidentin Bärbel Dieckmann. Die betrifft nicht allein die Verteilung der Lebensmittel, deren Menge an sich problemlos zur Ernährung der Weltbevölkerung ausreichen würde. Dieckmann nennt den Zugang zu Bildung und Berufsausbildung, die Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen in Teilen Afrikas und Asiens,  die Diskriminierung ethnischer und anderer Minderheiten sowie die weiter wachsenden Unterschiede zwischen Arm und Reich. „Wenn wir nicht auch die Ursachen der Ungleichheit bekämpfen, werden wir den Hunger bis 2030 kaum besiegen können“, so Dieckmann.

Entwicklungshilfe versus Handelspolitik

Erschwerend kommt hinzu, dass staatliche und nichtstaatliche Entwicklungshilfe noch immer durch die Handelspolitik der reichen Nationen konterkariert wird: So verwehrt die EU mit Zöllen und anderen Einfuhrbeschränkungen Produkten aus Afrika den Zugang zum europäischen Markt, während zugleich europäische Nahrungsmittelkonzerne ihre teils hoch subventionierten Erzeugnisse in afrikanische Länder ausführen und dort mit Dumpingpreisen lokale Anbieter verdrängen. Anstelle solcher Praktiken müsse darauf gedrungen werden, dass größere Teile der Wertschöpfungskette in den armen Ländern verbleiben. „Wenn afrikanische Tomaten in Italien konzentriert, abgefüllt und so zu italienischem Tomatenmark werden, dann ist das sicher nicht der richtige Weg“, findet die Welthungerhilfe-Präsidentin. Und, mit Blick auf die Flüchtlingsdebatten in Europa: „Wenn sich die Verhältnisse nicht ändern, machen sich die Menschen auf den Weg.“ Wer wollte es ihnen verdenken.