Statistische Tücken Statistisches Bundesamt: Steigt die Armut in Deutschland wirklich?

Berlin - Die Armut wächst im Westen. So könnte eine Schlagzeile lauten. Immer mehr Arme in NRW, Berlin und Bremen, ginge auch. Oder: Armut im Osten seit 2005 rückläufig. All diese Überschriften könnte man über den jüngsten Bericht des Statistischen Bundesamts platzieren, ohne dessen Inhalt zu verfälschen: Danach hat die Armutsgefährdung in den alten Ländern mit Ausnahme Hamburgs zwischen 2005 und 2015 zugenommen, während sie in den ostdeutschen gesunken ist.
In NRW stieg die Armutsquote (die Statistiker sprechen auch Armutsgefährdungsquote) um 3,1 Punkte auf 17,5 Prozent, in Berlin waren es 2,7 Punkte auf 22,4. In Bremen mit den bundesweit höchsten Werten legte die Quote um 2,5 Punkte auf 25,8 Prozent zu. Die deutlichsten Rückgänge verzeichneten Brandenburg und Mecklenburg- Vorpommern um je 2,5 Punkte auf 16,8 und 21,7 Prozent sowie Sachsen-Anhalt mit minus 2,3 Punkten auf 20,1 Prozent. Summa summarum ist der Osten dennoch weiterhin ärmer als der Westen, die Armutsquote im gesamten Bundesgebiet stieg zwischen 2005 und 2015 von 14,7 auf 15,7 Prozent.
Mehr Armut trotz steigender Löhne
Die Botschaft „Armut auf dem Vormarsch“ wäre klar, wenn da nicht weitere Datensammlungen wären, die das Statistische Bundesamt ebenfalls am Donnertag veröffentlicht hat: Sie dokumentieren zum einen sinkende Armutsquoten in Berlin und zum zweiten geringste Armutsquoten für die östlichen Bundesländer. Zum dritten zeigen sie um 2,5 Prozent gestiegene Reallöhne im ersten Halbjahr 2016, nach Zuwächsen von 2,4 Prozent im Jahr 2015 und 1,9 Prozent 2014. Auch hat die Zahl der Erwerbstätigen mit mehr als 43,5 Millionen ein Allzeithoch erreicht, gleiches gilt für die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit 31,4 Millionen, während die Arbeitslosenquote von 2005 bis heute von 11,7 auf 6,1 Prozent gesunken ist.
Steigende Löhne, immer mehr Jobs, weniger Arbeitslose - und dennoch wachsende Armut? Wie passt das zusammen? Es passt durchaus, was zunächst mit der Definition des Armutsbegriff zu tun hat: Als armutsgefährdet werden in der amtlichen Statistik Personen geführt, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) zur Verfügung haben. Der Median markiert den zentralen Wert, von dem aus die Anzahl der niedrigeren Einkommen genauso groß ist wie die der höheren.
Reiche verfälschen Durchschnittseinkommen
Im Vergleich zum Durchschnitteinkommen ist der Median sehr viel aussagekräftiger, um das tatsächlich verfügbare Einkommen der Bevölkerungsmehrheit anzugeben. Das zeigt ein einfaches Beispiel: In einem Dorf verdienen 1.000 Menschen 1.000 Euro pro Monat, eine Person nimmt eine Million ein. Im Durchschnitt verfügt damit jeder Dorfbewohner über 1.998 Euro. Steigen dies Millionärseinkünfte auf zwei Millionen Euro monatlich, liegt das Durchschnittseinkommen schon bei 2.997 Euro, obwohl 99,9 Prozent der Dorfbewohner weiterhin nur 1.000 Euro zur Verfügung haben.
Anders sieht die Rechnung beim Medianeinkommen aus: Es liegt unverändert bei 1.000 Euro, ganz egal, wie viele Millionen der einzelne Reiche einnimmt. Das Medianeinkommen stiege erst, wenn die Einkünfte von mindestens 500 weiteren Dorfbewohnern zulegten – und sich somit der Wohlstand auf breiter Front mehrte.
Auch Median hat seine Tücken
Trotz größerer Realitätsnähe hat aber auch der Median seinen Tücken. Denn damit wird Armut vollständig zur relativen Größe. Armut kann wachsen, obwohl die Menschen mehr Geld haben als zuvor, oder sinken, selbst wenn die Leute über weniger Geld verfügen.
Auch hierzu ein Beispiel: das angenommene Jahresmedianeinkommen beträgt 20.000 Euro pro Erwerbstätigem. Die Armutsschwelle von 60 Prozent liegt mithin bei 12.000 Euro. Wer 12.100 Euro hat, gilt statistische also nicht als armutsgefährdet. Nun steigt das Medianeinkommen um fünf Prozent auf 21.000 Euro, die Armutsschwelle auf 12.600 Euro. Die unteren Einkommen legen aber nur um drei Prozent zu. Damit wächst das 12.100-Euro-Einkommen zwar auf 12.463 Euro, es befindet sich nun aber unterhalb der der 60-Prozent-Grenze.
So wird aus einer zunächst statistisch nicht armen Person trotz eines Einkommenszuwachses von 363 Euro eine arme Person.
Dieser Mechanismus funktioniert auch in umgekehrter Richtung: Das Medianeinkommen sinkt um fünf Prozent von 20.000 auf 19.000 Euro, und damit auch die Armutsschwelle von 12.000 auf 11400 Euro. Bei den Niedrigeinkommen beträgt das Minus nur drei Prozent. Folge: Eine Person, die mit einem Einkommen von 11.900 Euro zunächst als armutsgefährdet galt, liegt ungeachtet eines Minus von 357 Euro nunmehr mit einem Jahreseinkommen von 11.643 Euro plötzlich über der Armutsgrenze.
Wie aussagekräftig sind bundesweite Statistiken?
Mit solchen Effekten lassen sich auch die widersprüchlichen Aussagen über die Armutsentwicklung in Berlin und die geringen Armutsanteile im Osten erklären. Gemessen am Bundesmedianeinkommen ist die Armutsquote in der Hauptstadt wie erwähnt von 19,7 auf 22,4 Prozent gestiegen. Nimmt man aber das Berliner Medianeinkommen zum Maßstab, sieht die Sache anders aus. Danach hatten 2005 16,1 Prozent der Hauptstadt-Haushalte weniger als 60 Prozent mittleren Berliner Haushaltseinkommen zu Verfügung, 2015 waren es „nur“ noch 15,3 Prozent. Wie kann das sein?
Das mittlere Einkommen bundesweit ist schneller gestiegen als das in Berlin, so dass die Armutsgefährdung im Verhältnis zum hauptstädtischen Medianeinkommen ab-, im Verhältnis zum Bund aber zugenommen hat. Gemessen an regionalen Medianen ist die Armutsgefährdung in Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern mit Quoten zwischen 12,4 und 13,6 Prozent bundesweit am niedrigsten.
Hieraus ergibt sich die Frage, wie belastbar und aussagekräftig bundesweite Statistiken zur tatsächlich Armutsentwicklung sind, zumal unterschiedliche Lebenshaltungskosten zwischen München und Pasewalk - von Mieten bis zu Dienstleistungs- und Lebensmittelpreisen - keine Rolle spielen. Die Antwort lautet: Allenfalls bedingt.