Bundesfinanzminister Schafft Lindner die Wirtschaftswende?
Beim Wirtschaftswachstum Flop, bei der Schuldenquote Top. Deutschland ist bei der IWF-Frühjahrstagung eine Ausnahme. Finanzminister Lindner nimmt die Zahlen als Argumentationshilfe mit nach Hause.
Washington - Eigentlich kann Christian Lindner nicht gefallen, was der Internationale Währungsfonds für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft vorhersagt: Unter den führenden westlichen Industrienationen ist Deutschland beim Wachstum Klassenletzter. „Just a hangover“, beschwichtigt der deutsche Finanzminister in diesen Tagen bei der IWF-Frühjahrstagung in Washington. „Nur ein Kater.“
Lindners Laune ist nicht so schlecht, wie die Zahlen vermuten lassen. Denn man könnte sie auch als Argumentationshilfe verstehen für das, was der FDP-Chef seit Wochen propagiert: Deutschland brauche eine Wirtschaftswende.
„Wir fühlen uns hier auf einer Linie mit den Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds“, sagt Lindner. Die Experten raten unter anderem zu Reformen auf dem Arbeitsmarkt. Vielen Staaten empfehlen sie, Defizite zu verringern und ihre Haushalte zu konsolidieren. Doch da hat der IWF nicht unbedingt Deutschland im Blick.
Denn so schlecht die Bundesrepublik beim Wirtschaftswachstum auch dasteht, so sehr ist sie beim Schuldenstand der Streber. Andere große Staaten - die USA, China - haben zwar mehr Wachstum, aber auch Schuldenquoten von mehr als 100 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die deutsche liegt bei 64 Prozent, Tendenz sinkend. Die Reaktion des IWF in Washington klingt ähnlich wie die Plädoyers von Lindners Koalitionspartnern SPD und Grüne zuhause: Deutschland könne es sich leisten, mehr Schulden zu machen, um damit die Wirtschaft anzukurbeln.
Lindner setzt auf mehr Arbeitsstunden statt Schulden
Für den Parteichef kommt das nicht infrage. In Deutschland gebe es keinen Mangel an öffentlichem Geld, sondern es fehle Produktivität, analysiert er. Bundesbank-Chef Joachim Nagel pflichtet dem Finanzminister bei: Größere Spielräume in der Schuldenbremse könne er sich allenfalls vorstellen, wenn die deutsche Schuldenquote unter die Maastricht-Vorgaben von 60 Prozent gesunken sei.
Lindner stellt sich etwas anderes vor, wenn er von einer „Wirtschaftswende“ spricht: Er ist der Meinung, dass in Deutschland zu wenig gearbeitet wird. Das Problem der deutschen Wirtschaft sei ein Defizit an geleisteten Arbeitsstunden im Jahr. „In Italien, in Frankreich und anderswo wird deutlich mehr gearbeitet als bei uns.“ Das liege an Regelungen zur Arbeitszeitverkürzung, der Demografie und auch an ungewollter Teilzeit wegen mangelnder Kinderbetreuungsmöglichkeiten.
Vorgeschlagen hat Lindner unter anderem, eine begrenzte Zahl von Überstunden für Vollzeitbeschäftigte steuerfrei zu stellen. Das soll „Lust auf Überstunden“ machen. Ausländische Fachkräfte könnten mit einem Steuerrabatt angelockt werden. Diese Vorschläge hat Lindner dem Vernehmen nach Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vorgelegt. Auch bei der Rente sieht der Finanzminister Reformbedarf.
Wie Kanzler und Vizekanzler reagierten, ist nicht bekannt. Was Lindner von Habecks früherem Vorstoß zu einem schuldenfinanzierten Sondervermögen für mehr Subventionen zugunsten der Wirtschaft hält, dagegen schon. In der innenpolitischen Debatte wünschten sich viele ein Subventionsprogramm ähnlich des IRA (Inflation Reduction Act) in den USA, sagt er in Washington. Doch diese Maßnahmen hätten genau das nicht erreicht: die Inflation zu verringern. „Sondern im Gegenteil: Unter Inkaufnahme hoher öffentlicher Defizite wurden die Preise eher noch angeheizt durch die staatlichen Subventionen.“
Entscheidung zur „Wirtschaftswende“ bis Anfang Juli geplant
Viele der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen für eine „Wirtschaftswende“ kosteten dagegen kein Geld, sondern sparten Geld im Staatshaushalt und in den Sozialversicherungssystemen, argumentiert Lindner. „Wenn Menschen arbeiten oder mehr arbeiten, zahlen sie schließlich höhere Steuern und Sozialabgaben und beziehen weniger soziale Transfers.“ Mit den eingesparten Milliarden ließen sich Steuerentlastungen für die Wirtschaft finanzieren. Lindner schweben bessere Abschreibungsmöglichkeiten vor und ein Abbau des Solidaritätszuschlags, den im Moment die oberen zehn Prozent der Steuerzahler, darunter viele Firmen, zahlen.
Spätestens am 3. Juli, wenn der Haushalt für das kommende Jahr im Kabinett sein soll, soll auch die „Wirtschaftswende“ stehen. Ob die bislang im Raum stehenden Ideen tatsächlich der Befreiungsschlag sind, wird bezweifelt. Das wäre kurz vor einer Bundestagswahl besonders für die FDP entscheidend. Denn mit keiner Partei der Ampel-Koalition gehen Probleme der Wirtschaft so sehr nach Hause wie mit ihr - paradoxerweise, ist doch der Wirtschaftsminister von den Grünen, die von der negativen Stimmung wenig spüren.