Nach Marchionne-Ablösung Nach Marchionne-Ablösung: Fiat steht plötzlich vor ungewisser Zukunft

Rom - Wie Routine wirkte der Termin Ende Juni in Rom. Fiat-Chrysler-Chef Sergio Marchionne übergab einen Geländewagen von Typ Jeep Wrangler an die Carabinieri. Damals ahnte noch niemand, dass es sein letzter öffentlicher Auftritt war. Marchionne hat inzwischen alle seine Ämter abgegeben. Wie es genau um seine Gesundheit steht, wissen nur ganz wenige. Er soll sich in einem irreversiblen Koma befinden.
Eine Ära endet abrupt. Die Zukunft des italienisch-amerikanischen Autobauers und eine Reihe weiterer Unternehmen ist plötzlich ungewiss. Alles hing an ihm. Er hat für mindestens vier Top-Manager gearbeitet. Denn er stand nicht nur an der Spitze von Fiat-Chrysler (FCA), sondern war auch Boss der Sport- und Rennwagentochter Ferrari und des Nutzfahrzeugherstellers CNH mit Marken wie Iveco und Magirus. Zudem gehörte er zur Führung von Exor, der Holding der Industriellen-Familie Agnelli. Clan-Chef John Elkann sagte am Wochenende, Marchionne sei der beste Chef, den man sich wünschen könne.
Ungesundes Leben eines „Sanierers“
Vorigen Freitag wurde der 66-Jährige in das Züricher Universitätsspital eingeliefert. Angeblich für eine Operation an der rechten Schulter. Komplikationen soll es gegeben haben. So die offizielle Darstellung. Italienische Zeitungen bezweifeln diese Version. Es wird spekuliert, dass Marchionne schon im Koma in die Schweiz geflogen wurde, wegen eines Lungentumors – die Züricher Universität und ihr Spital gehören zu den weltweit führenden Einrichtungen in der Krebsforschung.
Marchionne rauchte Muratti-Zigaretten in Kette und trank täglich Unmengen Espresso, um sich wach zu halten. Denn er arbeitete praktisch ohne Pause, mutete sich ständig Nachtflüge im Privatjet zu, um zwischen Turin, Detroit und der FCA-Zentrale in London zu pendeln.
Was ihn getrieben hat? „Ich bin ein Sanierer. Bis etwas definitiv saniert ist, kann ich nicht stoppen“, sagte er jüngst. Hinzu kommt ein zumindest ambivalentes Verhältnis zu seinem Heimatland. Marchionne stammt aus den Abruzzen, eine bergige Gegend im Süden des Landes. Der Menschenschlag, der dort herkommt, gilt in Italien als ehrgeizig bis verbissen und als hart im Nehmen. Seine Familie emigriert nach Kanada, als er 14 Jahre alt ist. In der neuen Heimat macht er einen Universitätsabschluss zuerst in Philosophie und dann in Betriebswirtschaftslehre. Ein Jurastudium hängt er noch hinten dran, bevor er 1983 seine Karriere als Wirtschaftsprüfer startet. Er kehrt nach Europa zurück, arbeitet sich in Führungsetagen hoch – allerdings nicht in Italien, sondern in der Schweiz. 2003 holt ihn Umberto Agnelli, der damalige Clanchef, in das Land seiner Eltern zurück, um Fiat zu retten.
Marchionnes große Aufräumaktion
Das Unternehmen ist in einem desaströsen Zustand. Ein riesiger Schuldenberg. Und alles ist rückständig. Marchionne schaut sich Waschräume im Turiner Fiat-Werk an und ist erschüttert. Arbeiter, die unter solchen Bedingungen schuften, könnten keine Autos bauen, die wettbewerbsfähig seien, sagt er damals. Es beginnt eine große Aufräumaktion, dabei legt er sich sowohl mit Industrieverbänden als auch mit Gewerkschaften an. Er kündigt überkommene Tarifverträge auf und zeigt demonstrative Distanz zum von Paternalismus geprägten Establishment. Äußeres Zeichen dafür ist, dass er konsequent Anzug nebst Krawatte verweigert und stattdessen dunkle Pullover überzieht, auch mitten im Sommer. Das Misstrauen gegen seine Landsleute ist so groß, dass er alles an sich zieht, zumal sein Mentor, Umberto Agnelli, kurz nach seinem Amtsantritt als Fiat-Chef stirbt. Mehrfach beklagt er sich bitter, wie allein er sich an der Spitze fühlt.
Dem Einsamen und Ruhelosen gelingt es aber, Fiat halbwegs zu stabilisieren. Doch er weiß, dass der Autobauer noch längst nicht über den Berg ist. Er sucht Partner im Ausland, um das Unternehmen wetterfest zu machen. Doch seine Anbandelversuche scheitern. Anderen Autobauer ist der Mann mit dem Pullover nicht geheuer. Seine große Chance kommt mit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009. Chrysler wird zahlungsunfähig und US-Präsident Barack Obama vermittelt die Übernahme der Mehrheitsanteile durch Fiat.
Die Akquisition kostet die Italiener null Euro, aber sie müssen viele Verpflichtungen zur Sanierung des US-Autobauers eingehen. In Italien wird Marchionne noch heute verübelt, dass viele Milliarden in die USA geflossen sind. Das klassische heimische Geschäft sei sträflich vernachlässigt worden. Für Fiat und die Marken Alfa Romeo und Maserati werden die Ausgaben für die Entwicklung neuer Motoren und neuer Pkw praktisch auf null gesetzt. Die Modellpalette wird zusammengestrichen. Gleichwohl punktet Fiat mit einem auch im Ausland äußerst erfolgreichsten Modell: dem 500er im Retrodesign. Die Idee für das Auto soll aber nicht vom Chef, sondern ausgerechnet vom schillernden Lapo Elkann, dem schwarzen Schaf der Agnelli-Clans, gekommen sein. Das ist aber auch bezeichnend für Marchionne, dem nachgesagt wird, kein großer Liebhaber von Autos geschweige denn so technikbesessen wie der Ex-VW-Partiarch Ferdinand Piech zu sein und den Konzern im Stil eines Investmentbankers zu führen. Fiat jedenfalls hat in Europa im Vergleich zu Glanzzeiten in den 60er und 70er Jahren massiv Marktanteile verloren.
Viel Arbeit für Jeep-Boss Mike Manley
Gleichwohl macht das Unternehmen inzwischen wieder Gewinne und der Wert der Gruppe hat sich seit 2004 mehr als verzehnfacht. Die Profite werden aber maßgeblich von der Chrysler-Marke Jeep getragen, die Marchionne zu einem globalen SUV-Anbieter ausgebaut hat.
Unter diesen Vorzeichen ist es plausibel, dass der bisherige Jeep-Boss Mike Manley am Wochenende zum neuen FCA-Chef ernannt wurde. Auf ihn wartet nun ein harter Job. Marchionne hat Anfang Juni bei der Verkündung eines neuen Fünf-Jahres-Planes massives Wachstum angekündigt. Der Konzern soll sich auf Segmente konzentrieren, die hohe Margen versprechen. Sportliche Limousinen von Alfa Romeo und Maserati können das sein und natürlich SUV: Jeep soll den Absatz bis 2022 sogar auf 2,8 Millionen Fahrzeuge verdoppeln. Zugleich muss Manley einen enormen Rückstand bei Elektromobilität und autonomen Fahren aufholen. Dafür war bislang bei FCA kein Geld da. Marchionnes Sanierer-Mission war, das Unternehmen schuldenfrei zu machen. Das ist jetzt gelungen. 2019 wollte er den FCA-Vorsitz abgeben.
Eine Gebrauchsanweisung für die Zukunft gebe es indes nicht, so Marchionne bei Vorstellung des Fünf-Jahres-Planes. Vielmehr beschwor er die „Überlebenskultur“ im FCA-Konzern, die aus Ungemach hervorgegangen sei und ohne eine Partitur funktioniere. Und bei seinem letzten öffentlichen Auftritt appellierte er an Tugenden wie Seriosität, Ehrlichkeit, Disziplin und an eine Mentalität des Dienens. Dies habe auch seinen Vater ausgezeichnet. Der war ein Carabiniere. Für Sergio Marchionne hat sich da ein Kreis geschlossen.