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Medizinische Kunstfehler Medizinische Kunstfehler: Patienten sollen ein Recht auf Schadenersatz bekommen

Von Timot Szent-Ivanyi 07.02.2017, 16:44
Experten schätzen, dass pro Jahr mindestens 40.000 Menschen Behandlungsfehler geltend machen.
Experten schätzen, dass pro Jahr mindestens 40.000 Menschen Behandlungsfehler geltend machen. imago stock&people

Als Meilenstein lobte einst die schwarz-gelbe Koalition das von ihr 2013 beschlossene  Gesetz zur Stärkung der Patientenrechte. Doch Juristen, die sich mit Kunstfehlern von Ärzten beschäftigen, war von Anfang an klar, dass das Selbstlob keinerlei Grundlage hatte.

Gesetz ist nichts als ein Placebo

Der Vorsitzende Richter eines Arzthaftungssenats prägte die Formulierung, das Gesetz verändere nichts, nehme nichts zurück, füge so gut wie nichts hinzu, stärke die Rechte der Patienten nicht und helfe weder der Rechtsprechung noch den Rechtsanwälten: „Es schadet nichts, es hilft aber auch nicht und ist daher nichts anderes als ein Placebo.“

Inzwischen mehren sich  aber die Stimmen, die endlich wirkliche Verbesserungen für die Patienten durchsetzen wollen. So gibt es die Forderung, nach dem Vorbild Österreichs auch in Deutschland einen Entschädigungs- und Härtefallfonds für die Opfer von Kunstfehlern einzuführen.

Ein Fall, der sich tatsächlich so zugetragen hat: Auf dem Operationstisch lag der 71-jährige K.; die Operation am offenen Herzen war beendet. Die OP-Schwester zählte die Tupfer, doch einer fehlte. Sie zählte erneut, doch das Ergebnis blieb gleich. Der Chirurg tastete noch einmal alles ab, doch auch dabei kam der Tupfer nicht zutage. Dann entschied der Arzt: Die Schwester hat sich verzählt. Der Brustkorb wurde geschlossen.

Zwei Tage später musste K. wegen einer akuten Blutvergiftung notoperiert werden. Der Tupfer fand sich im Herzbeutel. Ein eindeutiger Behandlungsfehler, der den Patienten fast das Leben gekostet hätte. Und dennoch weigerte sich die Klinik, eine Entschädigung zu zahlen. Die Komplikation sei nicht durch den Tupfer verursacht worden, so die Begründung.

Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen erschwert

Experten schätzen, dass pro Jahr mindestens 40.000 Menschen Behandlungsfehler geltend machen. Bei der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen stehen die meisten Betroffenen aber wie Patient K. vor großen Problemen. Denn im deutschen Arzthaftungsrecht sind die Hürden zulasten der Patienten sehr hoch. Es reicht nicht nachzuweisen, dass der Arzt einen Fehler gemacht hat. Eine Haftung des Mediziners besteht nur, wenn der Behandlungsfehler „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ für einen gesundheitlichen Schaden verantwortlich ist.

In Zahlen ausgedrückt wäre das eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 95 Prozent. In anderen EU-Ländern reicht dagegen eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit“, das wären 51 Prozent. Diese Differenz beschreibt die hierzulande bestehende Rechtslücke. Patienten haben darüber hinaus auch dann keine Chance auf Entschädigung oder Hilfen, wenn eine bisher unbekannte Komplikation auftritt.

Das vor vier Jahren unter der schwarz-gelben Bundesregierung in Kraft getretene Patientenrechtegesetz hat an diesem unbefriedigenden Zustand nichts geändert. Dort wurde nur das in Gesetzesform gegossen, was längst Standard in der Rechtsprechung durch die Gerichte war.

So galt und gilt beispielsweise, dass lediglich im Falle von groben Behandlungsfehlern eine Beweislastumkehr eintritt. In diesem Fall muss also der Arzt beweisen, dass der Fehler nicht zu den anschließenden Problemen geführt hat. Einen Entschädigungsfonds lehnte der damalige FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr mit dem eigentümlichen Argument ab, auf diesem Weg werde das Haftungsrecht ausgehebelt, das ein wirksamer Anreiz zur Fehlervermeidung sei. Anders ausgedrückt: Die Ärzte arbeiten nach Bahrs These nur ordentlich, wenn sie befürchten müssen, für mögliche Fehler zur Verantwortung gezogen zu werden.

Große Lücke wird bleiben

Hamburgs Sozialsenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) hatte sich schon zu Bahrs Zeiten für einen Entschädigungsfonds stark gemacht. Zusammen mit dem CSU-geführten Bayern hat Hamburg  Ende letzten Jahres  erneut einen Antrag in den Bundesrat eingebracht, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, einen derartigen Fonds einzurichten. „In der Entschädigung der Opfer von medizinischen Behandlungsfehlern klafft auch nach dem Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes eine große Lücke“, konstatiert Prüfer-Storcks.

Hamburg und Bayern unterstützen im Kern ein Konzept renommierter Bremer Rechtswissenschaftler. Es sieht eine Bundesstiftung vor, die immer dann einspringen soll, wenn der Zusammenhang zwischen einem Kunstfehler und einem Schaden nicht mit letzter Gewissheit bewiesen werden kann. Das Haftungsrecht wird also nicht ausgehebelt, sondern im Sinne der Patienten ergänzt. Der Fonds könnte zum Beispiel Unterstützung leisten, wenn Geschädigte nicht mehr arbeiten gehen können.

Vorgeschlagen wird, die Entschädigungssumme pro Patient in der Regel auf 100.000 Euro, im Ausnahmefall auf maximal 200.000 Euro zu begrenzen. Dazu soll die Stiftung aus Steuermitteln zunächst mit 100 Millionen Euro ausgestattet werden. Da juristisches Neuland betreten wird, soll der Fonds zunächst nur als Modellprojekt befristet für zehn Jahre angelegt und wissenschaftlich begleitet werden. Erst danach könne man über die endgültige Struktur entscheiden, so die Gutachter. Denkbar wäre nach Ansicht der Experten, dass sich später die Krankenkassen, die Versicherungswirtschaft, Kliniken und Ärzte sowie die Patienten ebenfalls mit Beiträgen beteiligen.

Soziale Härtefälle sollen abgefedert werden können

Auch gesetzliche Krankenkassen unterstützen die Idee eines Fonds. Wenn der Beruf nicht mehr ausgeübt werden könne, sähen sich die Patienten oft auch in ihrer finanziellen Existenz bedroht,  sagt  die Chefin der Techniker Krankenkasse in Berlin und Brandenburg, Susanne Hertzer. „Die Patienten müssen in der Regel jahrelang um einen Schadenersatz bangen. Hier sollten dringend Möglichkeiten geschaffen werden, solche sozialen Härtefälle abzufedern“, meint Hertzer.  Ein derartiger Fonds dürfe aber nicht dazu führen, dass die Aufklärung in den Hintergrund gerate, warnt sie.

Der Fall des vergessenen Tupfers ging für den Patienten am Ende doch noch gut aus. K. hatte Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK)  eingeschaltet. Sie durchforsteten zunächst den OP-Bericht, fanden dort aber nichts. Erst nach längerer Suche stießen die Gutachter  eher zufällig auf eine Notiz des Narkosearztes, die eine eitrige Entzündung an der Fundstelle des Tupfers beschrieb. Damit war klar, dass der Arztfehler  doch die Ursache für die Komplikation war.  Die Versicherung musste zahlen.