Studie Lebensmittelrückruf: Verbraucher werden oft zu spät über Probleme informiert

Berlin - Pestizidrückstände und Keimbelastungen, Glassplitter und Metallteile in Lebensmitteln sollten ausreichenden Anlass bieten, Verbraucher umgehend zu warnen und die Produkte aus dem Verkehr zu ziehen. In den allermeisten Fällen geschieht dies auch, allerdings oft zu spät und für viele Verbraucher kaum wahrnehmbar. Zu diesem Ergebnis kommt die Verbraucherorganisation Foodwatch in einer Analyse von 92 Lebensmittel-Rückrufen, die dem staatlichen Internetportal zwischen August 2013 und April 2014 sowie von Dezember 2016 bis März 2017 gemeldet wurden.
Verbraucher zu spät informiert
Fast die Hälfte der Rückrufwarnungen kam danach um mindestens einen Tag zu spät, in einem Fall gelangte der Rückruf erst mit 20 Tagen Verzögerung an die Öffentlichkeit.
An eine zudem meist kleine Öffentlichkeit: In den vergangenen fünf Jahren wurden im Durchschnitt pro Woche zwei Lebensmittel in Deutschland ganz offiziell zurück gerufen, ohne dass dies – von spektakulären Ausnahmen abgesehen – nennenswerte Aufmerksamkeit erregt hätte. Verantwortlich sind nach Ansicht der Studienautoren einerseits Hersteller und Handel, andererseits aber auch die unklare Rechtslage und ihre Umsetzung durch die Behörden.
„Hersteller rufen heute viel häufiger ihre Produkte zurück als noch vor ein paar Jahren“, sagt Foodwatch-Geschäftsführer Martin Rücker, um ein kräftiges Aber folgen zu lassen: Keines der untersuchten Unternehmen habe die Ware auf sämtlichen gängigen Informationskanälen zurückgerufen.
Facebook wird ausgelassen
Häufig blieben soziale Netzwerke wie Facebook außen vor, in anderen Fällen erschien die Warnung nur auf der Homepage des Herstellers. „Die meisten Unternehmen belassen es bei einer Pressemitteilung an die Nachrichten-Agenturen. Viele Menschen bekommen davon überhaupt nichts mit“, so Studienautorin Lena Blanken. Auch die Handelsketten sind laut Foodwatch selten eine Hilfe: Zumeist informierten Sie ihre Kunden in den Supermärkten nur dann über Rückrufaktionen, wenn hauseigene Marken betroffen seien.
Unternehmen handeln nicht illegal
Dabei ist die zurückhaltende Informationspraxis nicht etwa illegal: Es ist den Unternehmen überlassen, über welche Kanäle sie die Öffentlichkeit informieren und über welche nicht. Laut EU-Recht sind ausdrücklich die Hersteller für die Sicherheit ihrer Lebensmittel verantwortlich und ebenso für den Rückruf nicht sicherer Lebensmittel. „Damit entscheiden zunächst die Unternehmen selbst, ob eine Gesundheitsgefahr durch eines ihrer Produkte vorliegt“, kritisiert Blanken.
Rücker spricht von einem „unauflöslichen Interessenkonflikt“ innerhalb der Firmen, bei dem die Belange der Kunden nicht immer die entscheidende Rolle spielten. Hinzu kommt laut Untersuchung der Mangel an klaren rechtlichen Vorgaben. So lösen Pestizidrückstände über den gesetzlichen Grenzwerten keineswegs automatisch eine Rückrufaktion aus, weil es definierte „Rückruf-Grenzwerte“ nicht gibt.
Unternehmen bevorzugen „stille Rückrufe“
Mitunter bleiben öffentliche Bekanntgaben aber auch gänzlich aus. So genannte „stille Rückrufe“, bei denen Handel und Hersteller belastete Lebensmittel heimlich, still und leise aus den Regalen entfernen, sind laut Rücker keine Seltenheit. Beziffern lassen sich solche Fälle nicht, denn naturgemäß bleiben die meisten stillen Rückrufe unerkannt. Aber es gibt Beispiele. Foodwatch nennt einen folgenreichen Vorgang aus dem Winter 2009/2010. Damals hatte der Discounter Lidl über Monate hinweg Laborergebnisse zurück gehalten, die auf eine Listerienbelastung in einem österreichischen Handkäseprodukt aus dem Lidl-Sortiment hinwiesen. Drei Laborbefunde aus dem Juni, August und Dezember 2009 veranlassten Lidl lediglich zu „stillen“ Rückholaktivitäten.
Lidl musste Bußgeld zahlen
Erst nach einer Warnung der Österreichischen Gesundheitsagentur Arges Ende Januar 2010 startete Lidl einen öffentlichen Rückruf. Insgesamt acht Menschen starben damals infolge des Handkäseverzehrs. Der Discounter musste wegen der schwerwiegenden Versäumnisse 1,5 Millionen Euro Bußgeld zahlen.
An den Mängeln sind nach Ansicht von Foodwatch staatliche Stellen und die Politik nicht schuldlos. Häufig scheuten Behörden wegen der vielen unklaren Rechtsgrundlagen davor zurück, Rückrufaktionen selbst zu veranlassen, weil sie Schadenersatzforderungen der Unternehmen fürchten. „Es fehlt an klaren Vorgaben und Standards“, stellt Rücker fest.
Rückrufe gehen am Wochenende unter
Mitunter steht auch der Behördenalltag einer raschen Information der Bevölkerung entgegen. Der Rückruf von mit Glassplittern belasteten Einmachkirschen benötigte von der Meldung des Herstellers bis zur Veröffentlichung auf der staatlichen Internetseite volle drei Tage, weil ein Wochenende dazwischen lag. Die Dienstzeiten der Behörden wissen scheinen zahlreiche Unternehmen zu nutzen. An keinem anderen Wochentag werden der Behördenseite so viele Rückrufaktionen gemeldet wie am Freitag(-nachmittag), die dann aber erst am Montag öffentlich werden.
Zudem fristet das staatliche Portal lebensmittelwarnung.de trotz vollmundiger Ankündigungen beim Start 2011 ein Schattendasein. Technisch und optisch verharrt die staatliche Onlineseite auf dem Stand der 90er Jahre. Der 2011 fest zugesagte Newsletter-Service wurde bis heute nicht eingerichtet, der Jahresetat für den Betrieb der Seite liegt bei bescheidenen 50.000 Euro. Zum Vergleich verweist Rücker auf eine Eigenimagekampagne des zuständigen Bundesernährungsministeriums vom Frühjahr, die 270.000 Euro verschlungen habe.