Studie Kinderarmut: Darum leben in Deutschland immer mehr Kinder in Armut
Berlin - Deutschland geht es so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr: Die Wirtschaft brummt, die Zahl der Arbeitslosen geht zurück, die Verbraucher haben immer mehr Geld in der Tasche. Und doch nimmt die Kinderarmut hierzulande wieder spürbar zu, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung am Dienstag berichtete. Wir erklären, wie das zusammenpasst.
Was genau haben die WSI-Experten festgestellt?
Fast jeder fünfte Minderjährige in Deutschland lebt nach offizieller Definition in Armut. Die Quote kletterte nach WSI-Angaben zuletzt um 0,7 Punkte auf 19,7 Prozent. In absoluten Zahlen entspricht das einem Anstieg um 77.000 auf 2,547 Millionen. Am weitesten ist Kinderarmut in Bremen (34,2 Prozent), Berlin (29,8 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (29 Prozent) verbreitet. Am besten stehen die Regierungsbezirke Oberbayern, Tübingen und Oberpfalz da, wo die Kindermutsquote jeweils bei lediglich rund zehn Prozent liegt. Wie die Forscher am Dienstag betonten, steigt die Zahl der armen Kinder bereits seit einigen Jahren wieder an. Die jüngsten Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2015. Die Experten werteten für ihre Studie die neuesten Daten des Mikrozensus aus.
Wann gilt ein Mensch überhaupt als „arm“?
Nach der Definition der Europäischen Union sind Menschen arm, wenn sie weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens zur Verfügung haben. „Für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Euro lag die Armutsgrenze 2015 bei 1.978 Euro“, schreiben die WSI-Forscher. Gemeint ist das Monatseinkommen. Nachteil dieser Betrachtung: Sie lässt unterschiedliche Lebenshaltungskosten außer Acht. Das Leben in Anklam (Mecklenburg-Vorpommern) oder Oberhausen (NRW) ist günstiger als das Leben in Berlin, Frankfurt oder Köln.
Wie lässt sich erklären, dass trotz der guten gesamtwirtschaftlichen Lage wieder mehr Kinder als arm gelten?
„Der Anstieg der vergangenen Jahre beruht ganz überwiegend auf der starken Zuwanderung von Minderjährigen, die als Flüchtlinge zumeist unter der Armutsgrenze leben müssen“, schreibt das WSI. Eine wichtige Rolle spielt hier, dass in Flüchtlingsfamilien aus Afrika, dem Nahen Osten oder Nordafrika die Erwerbsbeteiligung der Mütter oft besonders niedrig ist. Kurzfristig komme es darauf an, dass die Flüchtlingsfamilien nun in Sicherheit sind, sagte am Dienstag WSI-Forscher Eric Seils. „Längerfristig besteht die Herausforderung darin, die Eltern von Flüchtlingskindern zu Löhnen und Bedingungen in Arbeit zu bringen, die der gesamten Familie ein Leben über der Armutsgrenze und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.“ Das gehe nur mit intensiver Qualifizierung.
Sind auch einheimische Kinder von steigender Armut betroffen?
Nein. Bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden, hat sich laut den Befunden das Armutsrisiko zuletzt kaum verändert. Bei Kindern ohne ausländische Wurzeln sei die Quote zuletzt sogar geringfügig von 13,7 auf 13,5 Prozent zurückgegangen. Hier schlägt die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt durch.
Gibt es in allen Regionen Deutschlands unterm Strich mehr arme Kinder?
Die Entwicklung variiert regional sehr stark. „Im Westen liegt der Zuwachs gegenüber dem Vorjahr bei einem halben Prozentpunkt, während es im Osten 1,4 Prozentpunkte sind“, heißt es in der Studie. Im Land Berlin stieg die Kinderarmutsquote zuletzt um drei Punkte auf 29,8 Prozent. Hier machte sich nach Angaben der Forscher neben der starken Zuwanderung auch bemerkbar, dass sich die privaten Einkommen in der Hauptstadt im Vergleich zum Bundesdurchschnitt schwach entwickeln. In Sachsen-Anhalt hingegen sank der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in Armut leben, binnen zehn Jahren um mehr als sechs Punkte auf zuletzt 27,2 Prozent. An dieser Region sei die Einwanderungswelle der vergangenen Jahre „weitgehend vorbeigegangen“, schreiben die Forscher. In Nordrhein-Westfalen sank die Quote gegen den Trend und trotz der starken Zuwanderung um 0,7 Punkte auf zuletzt 22,9 Prozent. Allerdings ist in einigen Regionen auch eine Zunahme zu verzeichnen. Hessen wiederum weist mit 18,2 Prozent derzeit „ein unterdurchschnittliches Armutsrisiko auf“, wie die WSI-Experten betonen. Gleichwohl gab es hier zuletzt eine Zunahme von 1,4 Prozentpunkten, wiederum vor allem bedingt durch die Zuwanderung.