Finanzkrise und ihre Folgen Finanzkrise und ihre Folgen: Wie die Lehman-Pleite die Weltwirtschaft veränderte

Berlin - Dieser Schwarze Montag lieferte mehr als das Aus eines Unternehmens. Er brachte das Undenkbare. An diesem Tag brach eine große amerikanische Bank zusammen, die in der modernen Finanzwelt als unverwundbar und zu groß für ein Scheitern galt. Als am 15. September 2008 die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers ihre Pleite verkündete, erschütterte sie den Finanzkapitalismus und die Weltwirtschaft.
Von diesem Tag an vertraute keine Bank mehr einer anderen. Der Geldfluss kam ins Stocken und mit ihm das Treiben in den Fabriken, Büros und Geschäften. Die Wohlstandsgesellschaften in Europa und Nordamerika erlebten ihre tiefste ökonomische Krise seit 80 Jahren. Dass sie anders als damals in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht in den Abgrund fielen, an dem sie standen, gilt heute als historische politische Leistung.
Einmalig große Konjunkturprogramme
Weltweit legten Regierungen und Notenbanken Bankenrettungen in nie gekannten Dimensionen hin, brachten einmalig große Konjunkturprogramme auf den Weg und überschwemmten mit billigem Geld und extrem niedrigen Zinsen die ausgetrockneten Märkte. Mit diesem beispiellosen Kraftakt verhinderten sie einen Kollaps unserer gewohnten Wirtschafts- und Lebensweise, wie er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg geführt hatte.
Eine Wiederholung blieb der Menschheit Anfang des 21. Jahrhunderts erspart. Trotz dieser nicht zu unterschätzenden politischen Leistung sind die Folgen der modernen Krise bis heute zu spüren. Und noch immer ist unklar, ob dem angeblichen Jahrhundert-Gau nicht morgen die nächste ökonomische Kernschmelze folgen wird.
Ein dramatisches Wochenende in New York und Washington
Vorausgegangen war dem 15. September 2008 ein dramatisches Wochenende in New York und Washington. Zuvor hatte die konservative US-Regierung unter Präsident George W. Bush mehrfach strauchelnde Banken vor dem Kollaps bewahrt. Und so stellten sich die Manager, die Händler an den Börsen, die Journalisten und die Öffentlichkeit darauf ein, dass der Staat auch diesmal das Schlimmste abwenden würde.
Rund um die Uhr verhandelte US-Finanzminister Henry Paulson mit der Wall Street über eine Stützung der Investmentbank Lehman, die es am Immobilienmarkt besonders bunt getrieben und sich übernommen hatte. Doch überraschend drängte Paulson diesmal auf eine private Lösung, etwa auf eine Übernahme durch einen anderen Wall-Street-Giganten. Doch der 1850 von deutschen Auswanderern gegründete Lehman-Gruppe ging es so schlecht, dass alle denkbaren Käufer auf staatliche Garantien bestanden. Warum die nicht kamen, ist noch heute heftig umstritten.
Historischer Fehler von Bush und Paulson
Viele Zeitgenossen vermuten als Grund die tiefe Abneigung zwischen Paulson, dem langjährigen Chef der Investmentbank Goldman Sachs, und dem aufbrausenden und überehrzeigen Lehman-Chef Richard Dick Fuld, Paulsons Rivalen und Erzfeind. Wahrscheinlich aber fürchtete die Bush-Regierung vor allem den Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit, in der die Milliarden für Großbanken extrem unpopulär waren.
Dass Bush und Paulson Lehman fallen ließen, gilt heute dennoch als historischer Fehler, der Werte in ganz anderen Größenordnungen vernichtete. Die Gesamtkosten der Bankenrettungen habe der Internationale Währungsfonds ein Jahr nach Beginn der Krise auf 3,4 Billionen Dollar geschätzt, schreibt Isabelle Bourboulon in einer Bilanz für das Netzwerk Attac. Hunderte Millionen Menschen verloren weltweit ihren Arbeitsplatz und ihre wirtschaftliche Existenz. Die wacklige europäische Währungsunion bekam den letzten Stoß, der sie in ihre eigene Krise mit enormen sozialen Opfern vor allem in Südeuropa stürzte.
Zeitenwende für den modernen Finanzkapitalismus
Ohne Zweifel werden sich Schulkinder noch viele Generationen lang den Tag der Lehman-Pleite für den Geschichtsunterricht merken müssen. Mit ihr begann die Finanzkrise nicht, da die US-Immobilienmärkte und die Banken bereits zuvor taumelten. Sie markierte auch nicht den Höhepunkt, da die Börsen und Volkswirtschaften in den Wochen und Monaten danach weiter abstürzten. Dennoch sprechen Ökonomen und Historiker von einer Zeitenwende, da mit Lehman das Vertrauen in den modernen Finanzkapitalismus verloren ging.
Seit den großen Liberalisierungswellen dominierte die Wall Street mit aggressiven Spekulationen, mit riesigen Investmentbanken, mit entfesselten Börsen und einer hemmungslosen Schuldenmacherei die Weltwirtschaft stärker denn je. Nun zeigte sich die Sprengkraft dieser entfesselten Finanzmärkte.
„Die Finanzkrise ist keine Krise des Kapitalismus“
Als Startpunkt dieser verhängnisvollen Entwicklung nennt der Bremer Wirtschafswissenschaftler Rudolf Hickel den 27. Oktober 1986. An diesem Tag habe Maggy Thatcher mit dem „Big Bang“ den Finanzplatz London komplett dereguliert. „Einer neuen Internationale vergleichbar folgten die meisten Länder, auch Deutschland, bei der Durchsetzung dieses Kasinokapitalismus“, so Hickel. „Die Finanzkrise ist keine Krise des Kapitalismus“, befand der langjährige Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn. Sie sei „eine Krise des angelsächsischen Finanzsystems, das zum Kasino-Kapitalismus mutierte und leider auch in Europa immer mehr Nachahmer fand.“
Mehrere Fehlentwicklungen wirkten zusammen und verstärkten sich gegenseitig. Eine Rolle spielte zweifelsohne die US-Notenbank Fed. Sie hatte lange die Zinsen in den Vereinigten Staaten stark gedrückt und damit den Immobilienboom angefeuert. Als dann von Mitte 2006 an in Folge steigender Inflationsraten die Zinsen anzogen, gerieten die völlig überschuldeten Hauskäufer in Boston und Alabama, Dallas und Chicago in Schwierigkeiten.
US-Regierung drängte Bürger zum Immobilienkauf
Mit von der Partie war auch die US-Regierung, die ihre Bürger geradezu zum Immobilienerwerb gedrängt hatte. Mit Vergünstigungen durch die staatlichen Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac wollte sie den Frust in weiten Bevölkerungskreisen über die schwache Lohnentwicklung und die zunehmende Ungleichheit im Lande entgegen wirken.
Aber der Crash wäre nicht denkbar gewesen ohne die umfassende Deregulierung der Finanzmärkte. Auf der Jagd nach Rendite stellten die Banken, auch solche aus Deutschland, in den USA den privaten Haushalten immer bedenkenloser Kredite für den Konsum und für Immobilien zur Verfügung. Diese Forderungen verpackten sie kunstvoll in scheinbar immobilienbesicherte Wertpapiere, bekannt und berüchtigt als so genannte Colloteral Debt Obligations. Darin mischten sie wie Alchemisten alle möglichen Finanzpapiere zusammen, bis am Ende der Schrott wie Gold glänzte und die Risiken nicht mehr erkennbar waren. Es halfen willige Ratingagenturen, die den Brandbeschleunigern höchste Sicherheit bescheinigten.
Regulierung wurde wieder populär
Auf den Lehman-Schock folgte die große Kehrtwende. Regulierung wurde in Washington, London und Berlin wieder populär. „Kein Finanzmarkt, kein Finanzprodukt und kein Finanzakteur ohne Aufsicht“ – dazu bekannten sich die Staats- und Regierungschefs der 20 führenden Wirtschaftsmächte (G 20) auf ihrem Gipfel im April 2009 in London. Tatsächlich wurden sie aktiv.
Banken müssen sich heute mit deutlich mehr Eigenkapital absichern als vor der Krise. Die Finanzaufsicht in Europa bekam mehr Durchgriffsrechte. Die Politik erschwerte allzu riskante Zockerei auf einzelnen Märkten wie denen für Derivaten. Mittlerweile rollt die Welle zurück. Vor allem in den USA drängt Präsident Donald Trump darauf, die Regulierung wieder zu lockern. Schattenbanken und Hedgefonds spielen weitgehend unbeaufsichtigt mit unglaublichen Summen.
Die mächtigen Wall-Street-Großbanken feiern, gemessen an den Profiten und Manager-Bezügen, wie in den alten Tagen. Die größte Gefahr droht ihnen von neuen Wettbewerbern aus der Digitalbranche, den Gelddruck-Maschinen namens Apple, Alibaba oder Google. Auf die kleinen Regulierer schauen sie von weit oben herab – ganz wie in den Zeiten vor dem Lehman-Crash.