Die Briefdetektive der Post suchen nach Adressen
Marburg/dpa. - Liebespost, Urlaubsgrüße und Beileidskarten - Anja Roth bekommt jeden Tag mehrere hundert Briefe. Sie liest sie aber kaum, dazu bleibt der 38-Jährigen keine Zeit.
Im Eiltempo schlitzt sie pro Stunde mehrere Dutzend Umschläge auf, obwohl auf keinem Kuvert ihr Name steht. Meist ist die Anschrift unvollständig, der Name falsch geschrieben oder der Empfänger unbekannt verzogen und der Absender fehlt. Trotzdem versucht die Postmitarbeiterin, eine Adresse zu ermitteln. Dazu darf die Briefdetektivin sogar fremde Post lesen. Wie ihre rund 110 Kollegen, die im bundesweit einzigen Service-Center Briefermittlung der Deutschen Post AG im mittelhessischen Marburg arbeiten, das es seit 1977 gibt.
Hier landen alle Postsendungen, die auf Irrwege geraten sind. Bis zu 16 000 Briefe täglich, wie Gerhard Schwarzer, Leiter der Abteilung Briefermittlung, sagt. Sie kommen aus den 82 regionalen Briefzentren der Post, wo sie - wie es im Postjargon heißt - als «unanbringlich» gekennzeichnet und nach Marburg weitergeleitet werden. Hier versuchen die Briefdetektive, die Post auf den rechten Weg zu bringen. Für die Suche nach einem verwertbaren Hinweis dürfen die Spezialisten das Briefgeheimnis brechen - ganz legal.
Das macht das Marburger Postgebäude zu einem besonderen Ort. In den nur mit Zahlencodes zugänglichen Etagen hat absolute Verschwiegenheit oberste Priorität. «Was die Mitarbeiter lesen, müssen sie streng für sich behalten», sagt Schwarzer.
Anja Roth fällt die Diskretion leicht: «Das ist gar nicht so interessant, wie man denkt», sagt sie. Die Briefe lese sie ohnehin nur quer. «Da reichen zwei Blicke», sagt Roth während sie ein Schreiben aus einem Umschlag zieht. Es ist eine Einladung zu einem Klassentreffen, der Empfänger war nicht auffindbar. Verwertbare Hinweise stünden meist am Anfang oder Ende eines Briefes. «Wie hier, da steht die Anschrift des Absenders unter dem Text der Einladung», sagt Roth nach wenigen Sekunden. Sie steckt die Einladung in einen neuen Umschlag und klebt ein Etikett mit der Anschrift des Absenders darauf. «Das war einfach», sagt Roth.
Kniffelig wird es, wenn auf den Umschlägen als Empfänger nur etwa «An den Weihnachtsmann» oder «An Onkel So-und-so in Oldenburg» steht. Wenn sich dann auch im Brief absolut keine Hinweise auf den Absender finden lassen, kommt er ins Archiv.
Bei mehr als 50 Prozent liegt die Erfolgsquote der Adressen-Ermittler laut Schwarzer. «Jeder zweite Brief, der zu uns kommt, erreicht also doch noch seinen Empfänger oder kann zum Absender zurückgeschickt werden», sagt der 48-Jährige. «Und dieser ganze Service ist für den Kunden kostenlos.» Was er die Post kostet, verrät das Unternehmen nicht. Bei mehr als 70 Millionen Sendungen, die jeden Tag in Deutschland verschickt werden, komme nur eine «wirklich kleine Zahl» an Irrläufern in Marburg an, sagt Pressesprecher Alexander Böhm.
Die trotz Recherche unzustellbaren Briefe lagern im Archiv neben unzähligen Gegenständen, die aus Kuverts gepurzelt sind. «Es gibt nichts, was nicht verschickt wird», sagt Schwarzer: Von Armbanduhren über Chipkarten, Handys, Schlüssel bis hin zu Zahnprothesen - etwa 1500 Fundsachen fallen den Spürnasen jeden Tag in die Hände. Ein Jahr lang wird alles aufgehoben. Alle vier Monate werden die herrenlosen Gegenstände versteigert, die Briefe kommen in den Reißwolf.
Renate Wagner, die seit mehr als zehn Jahren in der Marburger Stelle arbeitet, überrascht nichts mehr. «Ich habe schon fast alles in die Hände bekommen, auch Unterwäsche und Zahngold», sagt die 54-Jährige. Jeder Gegenstand wird in eine Datenbank eingetragen, die jede Nacht mit Kundenanfragen abgeglichen wird. «Das Schönste ist, wenn ich den Besitzern helfen kann, ihre Sachen zurückzubekommen», sagt sie. So manches rührende Dankesschreiben habe schon den Weg nach Marburg gefunden - ganz ohne Nachhilfe.