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Der Fall des Windrad-Pioniers Der Fall des Windrad-Pioniers: Warum Enercon künftig in Portugal und Türkei produziert

Von Steffen Höhne 13.11.2019, 09:00
Zwei Monteure verschalten in der Windgeneratorenfertigung der Enercon GmbH in Magdeburg die Elektrik eines Rotors für eine Windkraftanlage.
Zwei Monteure verschalten in der Windgeneratorenfertigung der Enercon GmbH in Magdeburg die Elektrik eines Rotors für eine Windkraftanlage. dpa

Magdeburg - Am Eingangstor des Enercon-Werkes in Magdeburg-Rothensee stehen zwei schwarz gekleidete Sicherheitsleute. „Wir möchten, dass Sie das Gelände verlassen. Gespräche mit Mitarbeitern sind nicht erwünscht“, sagt der eine. „Bis zur Hauptstraße ist das alles Firmengelände“, erklärt der andere. Miese Stimmung, keine Auskunft vor der großen Produktionsstätte von Rotorblättern, die geschlossen werden soll.

An der angrenzenden Straßenbahnhaltestelle, die auch den Namen Enercon trägt, können Mitarbeiter dann doch frei sprechen: „Für mich kam die Entscheidung aus heiterem Himmel“, sagt ein Mitarbeiter, der seit vier Jahren in der Fertigung der großen Flügel arbeitet. „Uns wurde immer versichert, dass der Standort unverzichtbar ist.“

Eine Kollegin sieht das anders: „Wir haben doch gesehen, wie die Zahlen von Monat zu Monat nach unten gegangen sind.“ Für sie war es daher nur eine Frage der Zeit, bis so eine Entscheidung fällt. „14 Jahre bin ich für das Unternehmen tätig“, sagt die Mittfünfzigerin. Sie habe früher in der Gastronomie gearbeitet und gehe dahin vielleicht zurück. Ihren Namen wollen die beiden Beschäftigten nicht nennen, auch wenn sie in wenigen Monaten voraussichtlich entlassen werden.

Enercon baut 1500 Stellen ab: Keine deutschen Rotorblätter

Am Freitagnachmittag hat der größte Windradbauer Deutschlands bekanntgegeben, am Stammsitz in Aurich (Niedersachsen) und am Standort Magdeburg jeweils 1.500 Stellen abzubauen. In der Landeshauptstadt beschäftigt der Konzern nach eigenen Angaben etwa 4.000 Mitarbeiter, das Wirtschaftsministerium hat zuletzt nur 3.000 gezählt.

Die unterschiedlichen Daten beruhen darauf, dass nicht klar ist, welche Firmen zu Enercon gehören und welche nicht. Laut IG Metall gibt es 14 Unternehmen in Magdeburg, die teilweise oder komplett für Enercon arbeiten. Besonders betroffen ist die Fertigung der bis zu 70 Meter langen Rotorblätter. Die Rothenseer Rotorblattfertigung GmbH und Groß-Rotorblattfertigung GmbH mit jeweils rund 400 Beschäftigten sollen im Laufe des kommenden Jahres die Produktion einstellen, sagte ein Firmensprecher.

Auch in Aurich falle diese Produktion weg. Man sei der letzte deutsche Windenergie-Anlagenhersteller gewesen, der die Blätter noch hierzulande gefertigt habe. Künftig werde man die Rotorblätter in Europa in Portugal und der Türkei produzieren. „Dort ist die Produktion zum einen günstiger, zum anderen macht die Türkei auch Vorschriften zu lokalen Produktionsstätten, damit man in dem Land Anlagen installieren darf“, heißt es. Kurz: Wer in der Türkei Windräder aufstellen will, muss sie dort fertigen. Local-content-Anforderungen heißt das in der Fachsprache.

Windkraft-Pionier Enercon seit 1995 auch in Magdeburg

Vor ein paar Jahren sah das noch ganz anders aus: Enercon wurde 1984 von Aloys Wobben gegründet und gilt als Windkraft-Pionier. Dass sich das Unternehmen 1995 auch in Magdeburg ansiedelte, ist kein Zufall gewesen. Die Landeshauptstadt war in der DDR das Zentrum des Schwermaschinenbaus. Viele Ingenieure, Mechaniker, Schlosser und Elektriker fanden bei Enercon eine neue Stelle. Sie brachten ihr Fachwissen ein, um die Anlagen und das Unternehmen großzumachen.

Mitte der 90er Jahre hatten Windräder nur eine Leistung von 1,5 Megawatt, heute liegen die Spitzenprodukte bei sieben Megawatt (siehe Grafik). Auch das Geschäft wuchs von Jahr zu Jahr. Magdeburg ist so zum größten Standort aufgestiegen, es werden Maschinenhäuser, Generatoren, Rotorblätter und Betontürme gefertigt. Im Jahr 2017 war Enercon mit 18.000 Mitarbeitern noch der weltweit fünftgrößte Hersteller von Windenergieanlagen an Land.

Hat Enercon zu spät auf Marktsituationen reagiert?

Das Unternehmen konzentrierte sich auf Deutschland und hatte zeitweise einen Marktanteil von 50 Prozent. Arbeitnehmerrechte standen bei Enercon jedoch nie hoch im Kurs. Bei einigen Tochterfirmen gibt es bis heute keine Betriebsräte. Vor Produktionsverlagerungen wähnte sich die Belegschaft sicher, da der Import der sperrigen Anlagen, etwa aus Asien, teuer ist. Doch die Krise zeichnete sich ab. Wurden 2017 in Magdeburg noch 450 Anlagen gefertigt, waren es im Vorjahr nur noch 350.

IG-Metall-Gewerkschaftssekretär André Voß wirft Enercon vor, zu spät auf veränderte Marktsituationen reagiert zu haben. „Es war doch klar, dass der Boom in Deutschland nicht ewig andauert“, sagt Voß. Viele Wettbewerber hätten schon viel früher ihr Geschäft international ausgerichtet.

Markteinbruch um 90 Prozent

Enercon-Chef Hans-Dieter Kettwig macht für die Situation dagegen die Bundesregierung verantwortlich. Nach der Einführung von Ausschreibungen für neue Anlagen durch die Bundesregierung habe sich das Marktvolumen um fast 90 Prozent im Vergleich zum Vorjahr reduziert. „Enercons Aufbauleistung schrumpfte durch den Kollaps auf das Niveau von vor rund 30 Jahren“, erklärte Kettwig. Im Jahr 2018 habe das Unternehmen hohe Verluste gemacht, 2019 würden diese noch höher ausfallen.

Dass sich der deutsche Markt schnell wieder erholt, daran glaubt die Enercon-Führung nicht mehr. Doch selbst wenn wieder mehr Anlagen installiert werden, ist fraglich, ob die Produktion in Deutschland stattfindet. Enercon stellte der MZ Marktdaten zur Verfügung. In den letzten Ausschreibungen in Deutschland

lag die Einspeisevergütung bei 6,5 Cent je Kilowattstunde. Der Zuschlagswert in Kolumbien lag zuletzt aber nur bei 2,5 Cent je Kilowattstunde, in Brasilien bei 2,3 Cent und in Indien (Gujarat) bei 3,5 Cent. Die Windausbeute ist in den Ländern stellenweise sicher höher als in Deutschland. Doch solch niedrige Vergütungen sind nur möglich, wenn auch die Herstellungskosten der Windräder niedriger sind als in Deutschland.

In Asien beispielsweise wird 30 bis 50 Prozent günstiger produziert, da rechnen sich auch lange Transportwege. Es verwundert daher nicht, dass Enercon sein Geschäft internationalisieren will. Enercon-Manager Jost Backhaus sagt: „Die Neuausrichtung muss auch unter Kostengesichtspunkten erfolgen.“ Von daher muss auch gefragt werden, wie es bei anderen Enercon-Firmen weitergeht, die aktuell noch nicht auf der Streichliste stehen. (mz)