Armut in Deutschland Armutsbericht 2017: Untersuchungen belegen höchste Armutsquote seit der deutschen Wiedervereinigung

Berlin - 12,9 Millionen Menschen lebten 2015 in Deutschland unterhalb der statistischen Armutsschwelle. Der Anteil armer Menschen an der Gesamtbevölkerung wuchs im Vergleich zum Vorjahr um 0,3 Punkte auf 15,7 Prozent. Das ist die höchste Quote, die seit der deutschen Vereinigung 1991 je festgestellt wurde.
Die Zahlen basieren auf Berechnungen des Paritätischen Gesamtverbands, der für seine jährlichen Armutsberichte seit 2005 die Mikrozenzus-Daten des Statistischen Bundesamts auswertet. Mit den aktuellen Ergebnissen setzt sich ein langjähriger Trend fort. 2005 hatte die Armutsquote noch bei 14,7 Prozent gelegen und war seither mit wenigen Unterbrechungen in fast jedem Jahr gestiegen.
Schere zwischen Arm und Reich wächst weiter
Die Zahlen bestätigen die vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) publizierte Erkenntnis, der zufolge etwa ein Fünftel der Bevölkerung von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt ist. Zwar hat sich die Arbeitslosigkeit seit 2005 fast halbiert, die Wirtschaft ist trotz der Finanzkrise kräftig gewachsen und das private Bruttogeldvermögen mehrte sich seit 2005 um durchschnittlich 3 Prozent pro Jahr und erreichte 2015 sagenhafte 5490 Milliarden Euro. Zugleich aber stieg der Anteil der Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median-Einkommen) zur Verfügung haben und somit als arm gelten.
„Volkswirtschaftliches Wachstum schlägt sich leider schon seit langem nicht mehr in sinkender Armut nieder“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider.
Weniger Armut im Osten – steigende Quoten im Westen
Im Zehnjahresvergleich wird deutlich, dass dies nicht für Gesamtdeutschland zutrifft. Mit Ausnahme Berlins ist der Armenanteil in den östlichen Bundesländern seit 2005 merklich zurückgegangen. In Mecklenburg-Vorpommern sank die Armutsquote seit 2005 von 24,1 auf 21,7 Prozent, in Sachsen-Anhalt von 22,4 auf 20,1 Prozent, in Thüringen von 19,8 auf 18,9 Prozent und in Sachsen von 19,2 auf 18,6 Prozent. Am kräftigsten ging der Anteil in Brandenburg zurück, von 19,2 auf 16,8 Prozent.
Problematische Entwicklungen in Berlin und Bremerhaven
Während die Quote in Bayern (zuletzt 11,6) und Hamburg (15,7) fast unverändert blieb, stiegen die Armutsquoten in allen anderen Westländern an, darunter auch wohlhabende wie Hessen mit einem Plus von 1,7 Punkten auf 14,7 Prozent. Besonders negativ verlief die Entwicklung seit 2005 in Bremen, Berlin und Nordrhein-Westfalen. In der Hansestadt stieg die Quote von einst 22,3 Prozent bis 2015 auf den Spitzenwert von 24,8 Prozent. Der Armenanteil in Bremerhaven liegt sogar bei rund einem Drittel der Bevölkerung. Mit einer weit überdurchschnittlichen Armutsproblematik hat auch die Hauptstadt Berlin zu kämpfen. Dort wurde 2005 eine Quote von 19,7 Prozent registriert, 2015 waren es 22,4 Prozent.
Ebenfalls bedrückend verlief die Entwicklung in NRW. Dort stieg Armutsquote im Zehnjahresvergleich von 14,4 auf 17,5 Prozent. Betroffen sind Regionen wie Köln mit einem Zuwachs von 13,8 auf 16,2 Prozent, vor allem aber das Ruhrgebiet. In der Rauordnungsregion Dortmund etwa nahm die Quote um 4,6 Punkte auf 22 Prozent zu, in der Stadt Gelsenkirchen wurden 2015 sogar fast 24 Prozent Arme registriert. Schneider spricht mit Blick auf die drei genannten Länder von „armutspolitischen Problemregionen“. Vor diesem Hintergrund könne von einem Ost-West-Gefälle heute nicht mehr die Rede sein, so der Verbandschef.
Aussagekraft des Berichts bleibt umstritten
Bleibt die Frage, ob die zugrunde liegende Armutsdefinition wirklich aussagekräftig ist. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hatte dies im vergangenen Jahr verneint: Es handele sich lediglich um relative, am mittleren Einkommen orientierte Armut. Steige das Median-Einkommen stärker als die unteren, nehme die Armut statistisch zu, obwohl die Betroffenen real mehr Geld in der Tasche hätten als zuvor. Außerdem berücksichtige die Orientierung am bundesweiten Median-Einkommen regional unterschiedliche Lebenshaltungskosten nicht. Überdies würden Personengruppen wie Studenten als arm erfasst, die faktisch zu den Bessergestellten zählten.
Schneider räumt dies zwar ein, verweist aber auf Bevölkerungsgruppen wie Obdachlose, in Heimen untergebrachte Behinderte und Pflegebedürftige, die allesamt nicht in die Armutsstatistik eingingen. „Wir haben es also keineswegs mit einer Überschätzung und Dramatisierung der tatsächlichen Situation zu tun, sondern im Gegenteil mit einer Unterschätzung.“ Auch die Kritik an der am bundesweiten Median-Einkommen orientierten Armutsdefinition weist Schneider zurück. Würde man zum Beispiel für Berlin nur das mittlere Einkommen der ansässigen Haushalte zugrunde legen, so käme die Hauptstadt auf eine Armutsquote von nur 15,3 Prozent, obwohl dort die Hartz-IV-Quote bei fast 20 Prozent und somit mehr als doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt liege. Betrachte man allein besondere soziale Problemviertel wie den Wedding, verschwinde die Armut sogar gänzlich, sagt Schneider: „In einem Armenhaus gibt es keine relative Armut.“ Denn wo alle arm sind, bleibt keiner zurück.