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Wehleidig oder nicht? - Ansichten aus Ost und West Wehleidig oder nicht? - Ansichten aus Ost und West: Deutschland - einig Jammerland

Von Marianne Quoirin 13.10.2003, 18:29

Sind wir ein Volk von Memmen und Waschlappen? Reagieren wir übertrieben empfindlich, wenn Veränderungen drohen, die Politiker in schönster Verblendung als Reformen etikettieren? Die Klage von Alt-Kanzler Helmut Schmidt über die Weinerlichkeit der Ossis müsste uns Wessis ja kalt lassen, denn auf uns hat er nicht mit dem Finger gezeigt. Warum eigentlich hat er uns geschont? Denn wenn es in irgendeinem Bereich eine Angleichung der auf der nach oben offenen Gefühlsskala zwischen Deutschen in Ost und West gegeben hat, dann bei unseren Befindlichkeiten: Deutschland - einig Jammerland.

Ausgerechnet wir, die es besser wissen müssten, schreien unisono nach Vater Staat: weinerlich, wehleidig, schon bei kleinen angedrohten Schmerzen in Klagen ausbrechend, bevor es überhaupt weh tut. Er soll uns vor allem Übel bewahren, aus dem Elend befreien in allen Lebenslagen von der Wiege bis zur Bahre. Während Bürger in anderen westlichen Ländern ein eher distanziertes Verhältnis zum Koloss namens Staat haben, ihn am liebsten raushalten möchten aus ihrem Leben, wollen wir uns bei ihm geborgen fühlen wie bei einem Bilderbuch-Patriarchen aus Kaiser Wilhelms Zeiten. Der Papa wird's schon richten. Von wegen. Er kann ja nicht einmal rechnen, wie uns Eichels jüngste Offenbarungen lehren.

Doch wer jammert da ständig in die Mikrofone? Etwa die Rentner, die vielleicht wirklich Grund zur Klage haben? Politologe Christian Graf von Krockow hat die Wehleidigkeit als eine Konsequenz zerstörter Traumwelten charakterisiert. Dieses Gefühlsgebräu, das der Öffentlichkeit serviert wird, soll vom Publikum goutiert werden. Wer in den Medien wehklagt, erhofft sich den Zuspruch aller Gutmenschen, auch wenn diese gar nicht betroffen sind.

Die Intensität von Weh und Leid, aus der sich Weinerlichkeit und Wehleidigkeit sprachlich seit dem 16. Jahrhundert ableiten, erscheint als Maßstab der Glaubwürdigkeit. Graf von Krockow will eine Inszenierung der Wehleidigkeit schon bei Kleinkindern beobachtet haben: "Ehe sie losbrüllen, schauen sie sich danach um, ob sie auch die gebührende Beachtung finden."

Den Streit, den Helmut Schmidt vom Zaun gebrochen hat, könnte man auf eine andere Ebene zerren. Doch dann käme das Thema einer Kriegserklärung im Kampf der Geschlechter gleich: Wehleidigkeit gilt bei 63 Prozent der Frauen als "typisch männliches" Phänomen. Männer schlagen auf gleichem Niveau zurück: Frauen seien eitel und sentimental.

Die Autorin ist Chefreporterin des Kölner Stadt-Anzeiger.