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Ungewöhnliches Hobby Warum ein Uni-Professor Studenten Spickzettel schreiben lässt

Von Simona Block 17.10.2019, 18:16
Gerald Gerlach mit zwei der Spickzettel, die seine Studenten für eine Prüfung vorbereitet haben.
Gerald Gerlach mit zwei der Spickzettel, die seine Studenten für eine Prüfung vorbereitet haben. dpa

Dresden - Winzige Schrift und eng beschrieben, strukturiert oder unübersichtlich, mit Kritzeleien und Bildern oder nur ein aufmunternder Spruch: Gerald Gerlach hütet in seinem Büro an der Technischen Universität Dresden einen besonderen Schatz. Der Schrank des Professors für Festkörperelektronik ist voller Spickzettel - von seinen Studenten. „Es könnten an die 1000 sein“, sagt Gerlach.

Seit über einem Jahrzehnt sammelt er die A4-Seiten, auf denen Prüflinge wichtiges Wissen notiert haben. „Für mich ist das auch Kunst.“ Eine Auswahl von rund 60 Exemplaren ist derzeit in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) zu sehen - Titel: „Spicken erlaubt“.

Dresdner Professor lässt Studenten ab und zu spicken

Genau das sagt der 61-Jährige zu Beginn jedes höheren Semesters. „Bestimmte Dinge muss man auswendig können wie Kopfrechnen, das kleine und das große Einmaleins, da wären erlaubte Spickzettel kontraproduktiv“, sagt der Hochschullehrer. Auch bei ihm darf erst ab dem 5. Semester gespickt werden. „Wenn man sich einen Spickzettel macht, muss man Wichtiges von Unwichtigem trennen, man muss Ordnung im Kopf schaffen“, erklärt er die Idee dahinter. Ziel sei es, die jungen Menschen dazu zu bringen, das Wissen aufzubereiten.

„Bis Informationen vom Kurzzeit- über das Konsolidierungs- ins Langzeitgedächtnis gelangen und damit Wissen werden, sind viele Wiederholungen erforderlich“, sagt Gerlach. „Lernen ist also mühsam, verlangt Anstrengungen und macht oft keinen Spaß.“ Wenn das Auswendiglernen nicht mehr im Vordergrund steht, sondern Probleme unter Anwendung des Grundwissens gelöst werden sollen, darf bei ihm je eine A4-Seite vorn und hinten beschrieben werden. „Schon als Schüler habe ich ganz kleine Spickzettel gemacht, sie dann aber fast nie verwendet, weil es meistens dann im Kopf drin war.“

Spickzettel sollen Studenten beim Lernen helfen

Mit dieser Erfahrung bringt er seine Studenten didaktisch dazu, das in Vorlesungen Gehörte aufzubereiten. „Als ich 1993 Professor geworden bin an der Fakultät, hatte ich das Gefühl, sie bereiten sich nicht so gut vor, wie ich mir das wünschen würde.“ Weil ihm selbst Spickzettel halfen, hat er sie als Hilfsmittel zugelassen. „Als ich die auf den Tischen gesehen habe, fand ich, dass die schick aussehen.“ Mit einem Wettbewerb schaffte er zusätzliche Motivation - jeweils der technisch und der künstlerisch beste werden prämiert.

Die Auswahl überlässt er seinen Mitarbeitern, der Preis: Geld für einen Kasten Bier. „Der Student ist ja immer knapp bei Kasse.“ Im Zuge der Ausstellungsvorbereitung hat er einen Teil seiner Sammlung kategorisiert. Das Spektrum reicht von den Minimalistischen über die Wortgewaltigen und Unlesbaren bis zu den Eleganten und Kalligrafischen. „Mein Ideal ist der gut Sortierte, übersichtlich, wo man alles findet, mit Anstrichen, Formeln.“

Spickzettel zeigen, wie gut Studenten den Stoff verstehen

Andere zeigten, „da ist noch Sauerkraut im Kopf“, weist Gerlach auf ein Blatt in der Mappe, auf dem im Fünfmillimeterkästchen-Raster Chaos herrscht. „Das gesamte Skript auf zwei Seiten, da findet man gar nichts.“ An den Zetteln sei der Stand der Vorbereitung ablesbar, aber auch andere Talente. Da finden sich feurige Drachen oder ein ratloser Vogel, Blümchen samt Schmetterling und Bienchen, ein Smiley samt Herz und dem Wunsch „Viel Erfolg“ oder die Kopie eines prallen Busens, über dem die Worte „Meine Motivation“ stehen samt knackigem Männeroberkörper „für die Sekretärin“.

Allein ist Gerlach nicht mit seiner Form der Lernförderung. „Mir haben viele Kollegen von anderen Hochschulen gesagt, „das mache ich auch schon lange““. Die Durchfallerquote bei den angehenden Elektroingenieuren ist jedenfalls deutlich geringer als früher. „Sie lernen fast ein bisschen versteckt den Stoff beim Schreiben des Spickzettels auswendig.“ Gerlach nennt das „Faulsein durch Fleiß“.

Prüfer entscheidet, ob Spicken bei ihm erlaubt ist

Nach Angaben einer TU-Sprecherin legt jeder Prüfer fest, was in der Prüfung erlaubt sind. „Im Grunde genommen dürfen Hilfsmittel nur verwendet werden, die ausdrücklich vom Prüfungsausschuss zugelassen sind“, sagt ein Sprecher des Deutschen Hochschulverbandes. „Das können Aufzeichnungen, Gesetzessammlungen, bestimmte Taschenrechner oder eben ein einseitiger Spickzettel sein.“ Die Bezeichnung Spickzettel sei allerdings ungünstig, da sie negativ mit Betrug assoziiert wird.

Bisher wurde Gerlachs Angebot nur ein Mal missbraucht, bei einer kombinierten Prüfung verschiedener Module. Der Kollege habe keine Spickzettel zugelassen, also musste geprüft werden, ob nur die Inhalte von Gerlachs Vorlesungen darauf stehen. Ein Student aus China hatte ihn teilweise in seiner Muttersprache beschrieben, mit dem Stoff des anderen Fachs. „Er hat die Prüfung nicht bestanden.“ (dpa)