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Verein «Wir helfen» startet neues Projekt Verein «Wir helfen» startet neues Projekt: Biologische Ursachen gibt es nur in seltenen Fällen

20.08.2004, 19:13

Halle/MZ. - Welche Kinder eine Schule für Körperbehinderte oder Hörgeschädigte besuchen, das kann wohl jeder auf Anhieb sagen. Aber was ist Lernbehinderung? Welche Ursachen hat sie, wie können diese Kinder gefördert werden? Ist Lernbehinderung "heilbar"? Unsere Mitarbeiterin Silvia Zöller befragte im Auftrag der MZ dazu Dr. Ines Falk, Direktorin der Comenius-Schule in Halle.

Kann man klar sagen, welche Schüler auf eine Lernbehindertenschule gehören?

Falk: Es gibt viele Definitionen zur Lernbehinderung, die in zwei grundsätzlich gegensätzliche Richtungen gehen. Die erste sagt: Lernbehindert ist, wer, egal, aus welchen Gründen, nicht im Regelschulsystem mitkommt. Diese Definition geht davon aus, dass ein Schüler nicht lernen kann, beispielsweise, weil er hyperaktiv oder ungezogen ist oder weil er die Schule geschwänzt hat.

Meine Kollegen und ich sind dagegen Vertreter des anderen Ansatzes, der davon ausgeht, dass Lernbehinderung ein tatsächlich überprüfbarer und feststellbarer Rückstand in der Entwicklung ist. Gekoppelt mit Auffälligkeiten in der Sprache oder Motorik, erreicht ein solcher Schüler nicht die Fähigkeiten, wie sie in seiner Altersklasse üblich sind. Er muss also anders behandelt werden, als ein Kind, das zwar über die intellektuellen Fähigkeiten verfügt, aber aus Frust oder Unlust nicht lernen will. Um Diskriminierungen herauszunehmen, spricht man heute übrigens von Förderschülern im Förderschwerpunkt Lernen.

Wie zeigen sich diese Rückstände?

Falk: Teilweise haben diese Schüler einen Rückstand von drei bis vier Jahren in der geistigen und sprachlichen Entwicklung. Neben körperlichen Entwicklungsverzögerungen stellen wir auch soziale und emotionale Verhaltensauffälligkeiten fest. Viele dieser Kinder haben durch ihre Familiensituation, die geprägt ist von Arbeitslosigkeit, keinen Halt und Probleme in der Lebensbewältigung.

Was sind die Ursachen?

Falk: In den wenigsten Fällen gibt es biologische Ursachen wie Unfälle, Epilepsie oder Geburtstraumen. Häufig fehlt dagegen eine Frühförderung, weil kein Kindergarten besucht wurde. Eine weitere Ursache ist, dass in vielen Fällen auch die Eltern aufgrund ihrer intellektuellen Möglichkeiten nicht in der Lage waren, das Kind zu fördern. Aber es gibt auch überbesorgte, gut situierte Eltern, die Hinweise auf eine Lernbehinderung ihres Kindes lange Zeit ignorieren.

Wie kann Schule diesen Kindern helfen?

Falk: Ein konkreter und individueller Förderplan gehört zu jedem Gutachten, mit dem das Landesverwaltungsamt den Schüler an eine Förderschule überweist. Eine Erleichterung für diese Schüler ist schon allein, dass hier die Rahmenrichtlinien vereinfacht sind und die Klassen nur maximal 15 Schüler haben. Frontalunterricht ist mit lernbehinderten Schülern schwer durchführbar, da der gesamte Unterricht Förderunterricht sein muss. Durch die Methodik muss jedes Kind die Chance haben, eine Erkenntnis zu erlangen: praktische Anschauung, das eigene Tun und die Unterteilung in kleine Schritte sind dabei wesentlich. Stationsarbeit und auch Elemente der Montessori-Pädagogik ermöglichen dies.

Außerdem sind bei uns die praktischen Fächer ausgeprägt. Bis zur sechsten Klasse werden textiles Gestalten, Schulgarten und Werken unterrichtet.

Wie sieht es mit den "schweren" Fächern Mathe oder Englisch aus?

Falk: In jedem Fach ist es möglich, den Stoff anschaulich und in kleinen Schritten zu vermitteln. Allerdings gilt bei uns, anders als etwa auf einem Gymnasium: Erziehung vor Bildung. Eines unserer wichtigsten Lernziele ist ein anständiger Umgang miteinander. Wir sind oft mehr Sozialpädagogen als Lehrer.

Wie sind die Erfolge ihrer Arbeit?

Falk: Wir versuchen neun Jahre lang alles, um die Kinder

zu fördern. Auch bei schwerst Verhaltensauffälligen haben wir eine hohe Erfolgsrate, und unser Erfolgsrezept heißt: Man muss nur diesen Kindern liebevoll zugewandt sein und einiges aushalten können.

Ein Drittel jeden Jahrgangs geht freiwillig in die zusätzliche 10. Klasse und schafft den Hauptschulabschluss. Durch Reha-Maßnahmen ist auch eine anschließende Berufsausbildung momentan noch gut abgesichert. Allerdings wird dann von den Lernbehinderten erwartet, dass die Behinderung nicht mehr vorhanden ist - anders als bei Körperbehinderten. Tatsächlich bricht aber gerade nach der Schulzeit ein Stützkorsett weg, viele gehen hoffnungslos ins Leben. Sie spüren, dass sie eine wenig beachtete Randgruppe sind.

Welche Rolle spielt Integration heute?

Falk: Wir sind in Sachsen-Anhalt 20 Jahre in der Entwicklung der Integration zurück. Ich habe in einer landesweiten Arbeitsgruppe mitgearbeitet, die eine Umstrukturierung des Sonderschulwesens für das Schuljahr 2005 / 06 in Sachsen-Anhalt vorbereitet hat. Danach sollen langfristig etwa die Hälfte aller dann vorhandenen Förderschulen zu Förderzentren umgestaltet werden.

Was ist ein Förderzentrum?

Falk: Das ist die Kooperation einer Förderschule mit mindestens einer Grund- und einer Sekundarschule. Hier können Kinder beispielsweise nachmittags gefördert werden, damit sie weiter eine Regelschule besuchen können. Dies eröffnet Möglichkeiten für Verhaltensauffällige, Lernbehinderte und Geistigbehinderte, die wir bisher nicht hatten.