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Psychologie Unsere Wahrnehmung ist zu negativ - und das hat Folgen

Es gibt Zeiten, die fühlen sich besonders negativ an. Das vergangene Jahr war so eines. Zu allen Kriegen und Krisen kommt noch hinzu: Menschen nehmen negative Informationen stärker wahr als positive.

Von Marco Rauch, dpa 06.01.2025, 05:00
Der Mensch nimmt negative Informationen stärker wahr als positive. (Symbolbild)
Der Mensch nimmt negative Informationen stärker wahr als positive. (Symbolbild) Sina Schuldt/dpa

Berlin/Köln - Manchmal ist es schwer, all die dunklen Nachrichten des vergangenen Jahres zu verarbeiten. In der Ukraine, im Nahen Osten und an vielen anderen Orten tobten und toben Kriege, die zerstrittene deutsche Bundesregierung zerbrach, in vielen Ländern verwüsteten Jahrhunderthochwasser das Land, beim Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt starben Menschen und bei Abstürzen von Passagierflugzeugen gab es zahlreiche Todesfälle.

All das bleibt im Gedächtnis. Viel eher als die Milliarden Menschen, die sich tagtäglich friedlich begegneten. Oder die unzähligen Flugzeuge, die sicher landeten. Oder auch die guten Nachrichten, etwa dass die Abholzung im Amazonas zurückging oder Deutschland die Fußball-EM im eigenen Land feierte.

Was für das Weltgeschehen gilt, gilt auch im Privaten: Negatives bleibt mehr im Kopf als Positives. Man erinnert sich eher an die eine negative Bemerkung zur neuen Frisur als an die vielen positiven Kommentare dazu.

„Während uns ein Wort der Kritik zu vernichten vermag, kann es uns durchaus kaltlassen, wenn uns jemand mit Lob überhäuft. Wir sehen das eine feindselige Gesicht in der Menge, während uns so manches freundliche Lächeln entgeht“, schreiben der US-amerikanische Sozialpsychologe Roy Baumeister und der ebenfalls amerikanische Wissenschaftsjournalist John Tierney in ihrem 2019 erschienenen Buch „Die Macht des Schlechten“. 

Die verzerrende Macht des Negativen

Schon ein einziges stark negatives Erlebnis könne ein lebenslanges Trauma auslösen, ein Pendant dazu im Positiven existiere nicht, schreiben die beiden. All das nennen sie „Negativitätseffekt“ oder „Negativitätsdominanz“, im Englischen „Negativity Bias“.

Baumeister und Tierney bezeichnen das Phänomen in ihrem Buch auch als „verzerrende Macht des Negativen“ und beschreiben es als „menschliche Neigung, sich von negativen Ereignissen und Emotionen stärker beeinflussen zu lassen als von positiven“.

Die Psychologen Lucas LaFreniere und Michelle Newman zeigten 2020 in einer Studie, dass die Menge der negativen Emotionen in Menschen in der Regel unverhältnismäßig hoch ist. Mehr als 90 Prozent der Sorgen, die sich Menschen täglich machen, seien völlig nutzlos - denn die Probleme, um die sie kreisen, träten niemals ein.

Evolution als Ursache?

Seine Ursache scheint der Negativitätseffekt in der Evolution zu haben - denn früher hatte er einen Zweck: Vor Tausenden von Jahren war er überlebenswichtig, weil es für die Menschen damals hochgradig relevant, sich zu merken, welche Früchte schwer verdaulich oder sogar giftig waren, wo Bären hausten oder Raubtiere auf Jagd gingen. Der Fokus auf diese Gefahren hat damals also Leben gerettet.

Heute gilt das zwar auch noch, beispielsweise bei erhöhter Vorsicht beim Autofahren, weil man die Geschichten der Horrorunfälle kennt. Der Effekt ist jedoch auch eine große Gefahr: Die Negativitätsdominanz zerstöre den Ruf von Individuen, da sich auf ihre Fehler konzentriert werde, schreiben Baumeister und Tierney. Er führe Unternehmen in die Pleite, wenn Aktionäre gehört haben, es gehe diesen schlecht.

Der Effekt fördere zudem Stammesdenken, Rassismus, grundlose Ängste und Zorn beispielsweise gegenüber Flüchtlingen, weil sich Geschichten über gefährliche Straftäter unter ihnen eher einprägen als Geschichten über die Friedvollen. Zudem vergifte die Negativitätsdominanz die politische Öffentlichkeit und sorge dafür, dass Demagogen gewählt werden, da diese sich die Ängste und Sorgen der Menschen zunutze machten. 

Mehr Aufmerksamkeit und tiefere Verarbeitung

Christian Unkelbach ist Sozialpsychologe an der Uni Köln, der Negativitätseffekt ist eines seiner Kernthemen. Ihm zufolge geht es dabei im Grunde darum, dass negative Informationen im Durchschnitt mehr Aufmerksamkeit von Menschen bekommen als positive. Zudem würden sie tiefer verarbeitet und hätten mehr Einfluss auf unsere Entscheidungen.

Als klassischen Erkläransatz nutzt auch Unkelbach die Evolution: „Nehmen wir extrem vereinfacht an, Vorfahr A achtet mehr auf negative Informationen als Vorfahr B. Vorfahr A entdeckt dann das Raubtier vor Vorfahr B; A entkommt und B wird gefressen.“

Der vorsichtigere Mensch, der sich die negativen Informationen über Gefahren besser einprägt, lebt also länger. Damit gibt er diese Herangehensweise auch über Gene und Erziehung weiter.

Unkelbachs Forschungsteam hat zudem einen Erklärungsansatz dazu, wie Lernprozesse ablaufen. Negative Informationen seien abseits der Nachrichten viel seltener als positive, und zudem viel diverser, da es sehr viel mehr Arten gebe, schlecht zu sein, also solche, gut zu sein. „Menschen achten mehr auf seltene Informationen - und die höhere Diversität führt zu einer tieferen Verarbeitung“, erklärt Unkelbach.

Praktische Vorteile und fatale Nachteile

Im heutigen Alltag könne der Effekt zwar auch einen Vorteil darstellen -beispielsweise dann, wenn die negative Information, dass Milch schnell schlecht wird, dazu führt, dass man darauf achtet und nie schlechte Milch trinkt.

Doch laut Unkelbach gibt es auch eine „fast tragische Konsequenz“ dieses eigentlich nützlichen Effektes. „Menschen erleben die Welt als hart, unfreundlich und negativ. Wenn Sie alle negativen Informationen eines Nachrichtentages zusammenfassen, Kriege, Hunger, soziale Probleme und allgemeine Ungerechtigkeit, dann sieht das Leben düster aus.“ 

Auch Unterhaltung und Politik betroffen

Es gebe kaum Bereiche, in denen der Negativitätseffekt so stark ausgeprägt sei wie beim Medienkonsum, sagt Unkelbach. Das betreffe nicht nur die Nachrichten, die von negativen Schlagzeilen bestimmt seien, sondern auch in Unterhaltungsmedien. 

„Da Unterhaltung auch Abwechslung bedeutet und negative Informationen diverser sind, sind negative Medieninhalte oft abwechslungsreicher und damit auch unterhaltsamer“, erklärt der Sozialpsychologe. „Ein Film über eine glückliche Beziehung und das tägliche, normale Leben ist weniger unterhaltsam als ein Film über eine Trennung und den darin enthaltenen Streit.“

Auch in der Politik spiele der Negativitätseffekt eine Rolle, schließlich werde sich mehr auf die Fehler von Regierungen und Politikern als auf deren Errungenschaften konzentriert. So bleibe eine einzige Lüge viel mehr in Erinnerung als viele verschiedene wahre Aussagen, sagt Unkelbach. Darunter leide die Integrität der Politiker, woraus Politikverdrossenheit folgen könne. 

Lösungsvorschläge

Doch was können Menschen gegen diese evolutionäre Prägung tun? Unkelbach zufolge könne „ein aktiver Fokus auf die positiven Erlebnisse im Leben hilfreich sein“. Einige Menschen schreiben zum Beispiel ein Tagebuch, in dem sie positive Geschichten festhalten. 

Zudem müssten Politik und Medien es schaffen, „interessante und abwechslungsreiche positive Inhalte zu generieren“, meint Unkelbach. „Allerdings liegt es auch der Verantwortung der Medien, Missstände und Probleme aufzuzeigen.“ 

Es könne schon helfen zu wissen, dass Medien und Politik immer einen Fokus auf Probleme und Negatives haben und die Welt dadurch nicht immer gut repräsentiert wird, meint er. Vielleicht könne also schon das bloße Wissen um den Negativitätseffekt helfen, sich von ebendiesem nicht runterziehen zu lassen.

Das bestätigen auch Baumeister und Tierney in ihrem Buch: „Indem wir den Negativitätseffekt durchschauen und uns über unsere angeborenen Reaktionen hinwegsetzen, können wir destruktive Muster durchbrechen und positiver – effektiver – in die Zukunft sehen.“ Das sei jetzt in der digitalen Welt, „die die Macht des Negativen potenziert“, wichtiger denn je. Der rationale Teil unseres Hirns könne dabei helfen, sich von der aus der Zeit gefallenen Fokussierung auf das Negative loszusagen und sich stattdessen Positivem zuzuwenden.